Des Kaisers Gespielin (German Edition)
dass das Gestrüpp keineswegs so dicht war wie es von außen schien. Tatsächlich könnte man im Inneren des grünen Labyrinths gemütlich spazieren gehen, so man denn ausreichend schmal gebaut war.
Ravenna stand im Halbdunkel neben mir und weidete sich sichtlich an meinem Erstaunen.
„Ach du lieber... Was ist das?“
Mit großen Augen blickte ich mich um und Ravennas überwältigendes Gelächter streichelte meine Seele.
„Das ist ja riesig!“
Mit dem breitesten Lächeln auf den Lippen nahm sie wieder meine Hand und führte mich durch ihr verwunschenes Geheimnis.
„Hier ist es!“
Es schien als wäre die Dämmerung an dieser Stelle etwas dichter, als wollte sie einen verschlucken. Vorsichtig ging ich bis ich endlich vor einer massiven Mauer aus wettergegerbten Feldsteinen stand.
„Das Ende der Welt.“, flüsterte Ravenna überraschend nahe an meinem Ohr. „Unserer Welt jedenfalls.“
„Die Palastmauer?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.
„Weißt du, warum ich hier einen Garten habe anlegen lassen? Wir wissen doch beide, dass meine Freiheit, meine Privatheit nur augenscheinlich ist. Der Garten ist mein Paradies, aber mehr noch, in ihm liegt meine Freiheit.“
Ich verstand nicht, was sie mir sagte.
Ravenna schob einen Stapel knorriger abgestorbener Äste zur Seite und meine Augen wurden groß vor Staunen. Nur eine Sekunde später kam die Angst hinzu.
Hinter all dem Gehölz befand sich eine Tür. Alt und verwittert zwar, aber unverkennbar eine Tür.
„Ravenna...“, hauchte ich unbeweglich vor Entsetzen.
„Keine Sorge, kleine Lila. Dieses Tor ist längst vergessen und wäre es nicht für mich, dann wäre sie auch längst verschwunden. Ich habe Jahre gebraucht, um sie zu öffnen.“
Ich zog laut zischend den Atem ein.
„Du meinst... sie lässt sich öffnen?“
Statt mir zu antworten begann sie die Mauer neben der Tür abzutasten bis sie mir schließlich triumphierend einen fleckigen Schlüssel entgegen hielt.
„Aber natürlich. Was wäre eine Tür, wenn man nicht hindurch gehen könnte?“
Sprachlos vor Entsetzen und Aufregung sah ich ihr hilflos dabei zu, wie sie mit dem Schlüssel im Schloss stocherte. Er schien nicht besonders gut zu passen, denn er ächzte und stöhnte bei jeder Bewegung.
„Ich habe ihn selbst gemacht. Er ist nicht ganz perfekt, aber meistens...“, über ihre Stirn legten sich Falten vor Konzentration, „...tut er, was er soll. Mit ein bisschen Übung.“
Und es klickte im Schloss und die Tür war offen.
Erstaunt sahen wir uns an und plötzlich fing Ravenna an zu lachen.
„Du solltest dich sehen. Als hättest du einen Geist gesehen.“
Ich war vor Aufregung ganz atemlos. Was um alles in der Welt hatte sie getan? Sie besaß einen Schlüssel zur Welt und der konnte sie das Leben kosten. Wusste sie das nicht? Oder scherte sie sich einfach nicht darum?
„Das dürfen wir nicht.“
„Natürlich nicht. Ist das nicht schön?“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und schloss das Tor gewissenhaft zu. Den Schlüssel versteckte sie wieder zwischen den Feldsteinen und kicherte dabei unermüdlich in sich hinein.
Ich wusste nicht, wie sie so unbeschwert lachen konnte, wenn bei unserer Entdeckung doch unser Leben am seidenen Faden hängen würde.
„Vergiss nicht, was du versprochen hast. Das ist unser Geheimnis. Meines und deines.“
Ich nickte wie betäubt. Ravenna lächelte mich an. Dann kam sie ganz nahe an mich heran und küsste mich sanft wie ein Vögelchen auf die Wange. Und all meine Bedenken, meine Angst und meine Sorge waren wie von Zauberhand verschwunden.
10.
Am Abend erschienen wir zusammen im kaiserlichen Speisesaal, Hand in Hand mit rosigen Wangen und kleinen Blumen im Haar. Ich hatte mich auf meinem Zimmer ausgiebig im Spiegel betrachtet. Mein Haar fiel offen in weichen Wellen bis aufs Gesäß herunter und war von einem Kranz aus Blüten gekrönt. Ravenna hatte gute Arbeit geleistet und ich errötete kurz, als ich an ihre sanften Berührungen auf meinem Kopf dachte. Die anderen Mädchen hielten verblüfft inne, als sie unserer trauten Zweisamkeit ansichtig wurden. Ob es unser blumengeschmücktes duftendes Auftreten war oder der Umstand, dass die unnahbare Ravenna so offensichtlich Gefallen an mir, einem neuen und noch dazu so farblosen Mädchen, gefunden hatte, vermochte ich nicht zu sagen. Aber ich war glücklich und die vielen Blicke machten mir nichts aus.
Ravenna verlangte ganz ungeniert, dass ich bei Tisch neben ihr
Weitere Kostenlose Bücher