Des Todes Dunkler Bruder
»Warum sollte er das tun?«
Weil es schön ist, dachte ich. »Dadurch verlangsamt sich der Blutfluss«, erklärte ich.
Sie studierte mich. »Ist das von Bedeutung?«, fragte sie.
Ich holte tief und vielleicht ein wenig zittrig Luft. Ich konnte es ihr nicht nur niemals erklären, sie würde mich einsperren, wenn ich es auch nur versuchte. »Es ist lebenswichtig«, sagte ich. Aus irgendeinem Grund war ich verlegen.
»Warum lebenswichtig?«
»Es, äh – ich weiß nicht. Ich glaube, er hat einen Bluttick, Deb. Nur so ein Gefühl, das ich … ich weiß nicht woher, kein Beweis, verstehst du?«
Sie schaute mich wieder lange an. Ich suchte nach einer Bemerkung, aber mir fiel nichts ein. Der geschmeidige Dexter Silberzunge, mit trockenem Mund und um Worte verlegen.
»Scheiße«, sagte sie schließlich. »Das ist alles? Kälte verlangsamt den Blutfluss, und das ist lebenswichtig? Komm schon. Wozu soll das verdammt noch mal gut sein, Dex?«
»Vor meinem ersten Kaffee bin ich nicht ›gut‹, Deborah«, sagte ich in einem heroischen Versuch mich zusammenzureißen. »Nur akkurat.«
»Scheiße«, sagte sie wieder. Rose servierte unseren Kaffee. Deborah trank einen Schluck. »Gestern Abend wurde ich zur 72-Stunden-Besprechung eingeladen.«
Ich klatschte in die Hände. »Wunderbar. Du bist angekommen. Wofür brauchst du mich noch?« Metro Dade hatte die Angewohnheit, die Ermittlungsmannschaft geschätzte 72 Stunden nach einem Mord zusammenzurufen. Die Ermittlungs-leiterin und ihre Mannschaft diskutierten den Fall mit dem Gerichtsmediziner und manchmal mit jemandem aus dem Büro der Staatsanwaltschaft. So waren alle auf dem gleichen Stand. Da Deborah eingeladen worden war, gehörte sie dazu.
Sie funkelte mich an. »Ich bin undiplomatisch, Dexter. Ich spüre, wie LaGuerta mich herausdrängt, aber ich kann nichts dagegen unternehmen.«
»Sucht sie immer noch nach ihrem geheimnisvollen Zeugen?«
Deborah nickte.
»Ehrlich? Selbst nach dem Mord gestern Abend?«
»Sie sagt, das sei der Beweis dafür. Weil diesmal die Schnitte komplett waren.«
»Aber sie waren alle unterschiedlich « , protestierte ich.
Sie zuckte die Achseln.
»Und du hast vorgeschlagen …?«
Deb wandte den Blick ab. »Ich habe ihr gesagt, dass ich es für Zeitverschwendung hielte, nach einem Zeugen zu fahnden, wenn es offensichtlich sei, dass der Killer nicht unterbrochen wurde, sondern einfach nicht befriedigt war.«
»Autsch«, machte ich. »Du hast wirklich keine Ahnung von diplomatischem Verhalten.«
»Gut, verdammt noch mal, Dexter«, sagte sie. Zwei alte Damen am Nachbartisch starrten sie an. Sie merkte es nicht. »Was du gesagt hast, klang vernünftig. Es ist offensichtlich, und sie ignoriert mich. Schlimmer noch.«
»Was könnte schlimmer sein als ignoriert zu werden?«, erkundigte ich mich.
Sie errötete. »Ich habe hinterher ein paar Streifenbeamte dabei ertappt, wie sie sich über mich lustig machten. Ein Witz macht die Runde, und der dreht sich um mich.«
Sie biss sich auf die Lippe und sah weg. »Einstein«, sagte sie.
»Ich fürchte, ich verstehe nicht«, sagte ich.
»Wenn ich so viel Hirn wie Titten hätte, wäre ich Einstein«, erklärte sie bitter. Ich räusperte mich statt zu lachen. »Das verbreiten sie über mich«, fuhr Deb fort. »Diese kleinen Sticheleien bleiben an einem hängen, und dann wird man nicht befördert, weil sie annehmen, dass jemand, der so einen Spitznamen trägt, von niemandem respektiert wird. Gott-verdammt, Dex«, sagte sie wieder, »sie ruiniert meine Karriere.«
Eine kleine Welle beschützerischer Wärme spülte in mir hoch. »Sie ist eine Idiotin.«
»Soll ich ihr das sagen, Dexter? Wäre das diplomatisch?«
Unser Essen kam. Rose knallte die Teller vor uns auf den Tisch, als wäre sie von einem korrupten Richter dazu verurteilt worden, Kindermördern das Frühstück zu servieren. Ich schenkte ihr ein gigantisches Lächeln, und sie stapfte in sich hineinmurmelnd davon.
Ich aß einen Bissen und wandte mich geistig wieder Deborahs Problem zu. Ich musste versuchen, auf diese Weise daran zu denken: Deborahs Problem. Nicht »diese faszinierenden Morde«. Nicht »dieser erstaunlich anziehende Modus operandi« oder »diese Dinge, die denen so ähnlich sind, die ich eines Tages selbst gern tun würde«. Ich musste mich heraushalten, aber es zog mich unglaublich an. Selbst der Traum letzte Nacht mit der kalten Luft. Reiner Zufall natürlich, aber irgendwie beunruhigend.
Weil der Mörder das Innerste
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