Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
zur Zivilcourage. Mancher mag in diesem Buch die eine oder andere deutsche Tugend vermissen, aber auf Vollständigkeit kam es mir gar nicht an und auch nicht auf eine systematische Behandlung der Tugenden, die mich interessieren. Es handelt sich vielmehr um einen subjektiven Streifzug durch die deutsche Kultur und die deutsche Geschichte aus der Sicht eines Zugereisten, der in diesem Land Wurzeln geschlagen hat.
Einem möglichen Missverständnis möchte ich gleich vorweg entgegentreten: Es wäre falsch zu glauben, der Autor dieses Buches wähne sich im Vollbesitz auch nur einer der hier beschriebenen Tugenden. Das Gegenteil ist der Fall: Er weiß, dass es sich bei den Tugenden um Ideale handelt, nach denen man streben kann, wohl wissend, dass ein Sterblicher sie niemals erreichen wird. Wenn man sie erreichte, wären sie keine Ideale mehr. Und selbst derjenige, der von sich behaupten kann, ein tugendhaftes Leben zu führen, würde sich doch niemals damit hervortun. Denn wer sich mit seinen Tugenden vor seinen Mitmenschen brüstet, hat aus ihnen schon Laster gemacht. So betrachtet, ist Demut die schönste aller Tugenden.
Wer sich auf den Pfad der Tugend begibt, muss bereit sein, Umwege zu gehen. Das wusste auch Heimito von Doderer, als er am 18. Oktober 1951 in sein Tagebuch schrieb: «Wenn ich mich frage, was ich denn eigentlich und wirklich haben möchte und mir wünschte: so wäre es – viel Geld, um in einer Folge schwerster sexueller Excesse, sinnloser Saufereien und dementsprechender Gewalthändel endgültig unterzugehen. Statt dessen hab’ ich das weitaus gewagtere Abenteuer der Tugend gewählt.»
Asfa-Wossen Asserate
Anmut
A uf einer Photographie von August Sander aus dem Jahr 1914 sieht man drei junge Männer über einen Feldweg gehen. Alle drei tragen Anzug, Hut und Krawatte und in der Rechten einen Spazierstock. Auf ihrem Weg halten sie inne, den linken Fuß nach vorne geschoben, den Körper kerzengerade. Über die rechte Schulter blickend, wenden sie sich dem Betrachter zu. Der dritte von ihnen, eine Zigarette zwischen den Lippen, hält ein wenig Abstand zu seinen Begleitern. Unter seinem Hut, der schräg auf dem Kopf sitzt, quillt eine Locke hervor.
Niemand, der die Photographie einmal gesehen hat, wird sie wieder vergessen. Eine zauberhafte Anmut liegt in der Haltung der drei Männer und ihren Gesichtern. Jungbauern im Sonntagsstaat ist das Bild betitelt, oder auch Bauern aus dem Westerwald auf dem Weg zum Tanz . Die allermeisten, die es heute sehen, würden nicht auf den Gedanken kommen, dass es sich bei den drei jungen Männern um Bauern handeln könnte. Bauern mit Anzug, Stock und Hut – das mutet heutzutage exotisch an. Wenn ich das schöne Wort Anmut höre, denke ich an dieses Bild.
Als Francesco Petrarca im Jahr 1333 auf seiner Reise durch Deutschland nach Köln kam, damals eine der größten Städte Europas, zeigte er sich überrascht von der Anmut der Menschen, denen er hier begegnete: «Erstaunlich für eine Stadt der Barbaren, welche Kultiviertheit, welch städtisches Gepräge, welcher Ernst der Männer, welch gepflegtes Äußere der Frauen», schrieb er an den befreundeten Kardinal Colonna in Avignon. «Denn das ganze Ufer bedeckte ein herrlicher und überaus großer Zug von Frauen. Ich wurde ganz still: Gute Götter, welch eine Schönheit der Gestalt, welch eine Vollkommenheit der Haltung!»
Wer sich heute in den Straßen deutscher Städte auf die Suche nach der Anmut macht, muss sich schon ein wenig umschauen, bis er sie findet zwischen unförmigen Anoraks, Leggins in Bonbonfarben, Jogginghosen und Turnschuhen. Höchst ungern stimme ich in den Chor der Menschen ein, die ständig rufen: «Früher war alles besser», und doch empfinde ich es als beklagenswert, dass sich die Sorge um das eigene Erscheinungsbild derart verflüchtigt hat. Robert Gernhardt hat die Anmut in den Fußgängerzonen von Nürtingen, Lübeck und Metzingen vergeblich gesucht und ihr Verschwinden bedichtet: «Wie sie kauend durch die Straßen schieben! Du musst diese Menschen nicht lieben …» Die Bequemlichkeit, heißt es, ist der größte Feind der Anmut. Und doch erscheint es mir als ein großes Missverständnis, wenn man meint, dass sich Bequemlichkeit und ein gepflegtes Aussehen per se ausschließen. Coco Chanel hat dies bereits in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts widerlegt.
Maintaining standards – dies galt lange Zeit keineswegs nur für britische Generaloffiziere in den Kolonien, die sich
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