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Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
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Auracher fand. Sie lieferte das Spielzeug für die Königskinder an den bayerischen Hof, und dort stach ihre Schönheit König Ludwig I. ins Auge. Der König persönlich besorgte die Altmünchner Tracht, in der Stieler die inzwischen Siebzehnjährige porträtierte. Geschmückt mit einer silbernen Riegelhaube und geschnürt in ein Mieder mit silbernen Ketten, den Blick leicht nach oben am Betrachter vorbei gerichtet – in ihrer vollkommenen Anmut wurde sie zum Inbegriff der schönen Münchnerin.
    Wer von deutscher Anmut spricht, kommt an dem größten Dichter der Deutschen nicht vorbei: Als der zweiundzwanzigjährige Goethe im Mai 1772 nach Wetzlar kam, um am dortigen Reichskammergericht – der obersten zivilen Gerichtsbehörde des Heiligen Römischen Reiches – sein Praktikum anzutreten, lernte er die neunzehnjährige Charlotte Buff kennen. Ihr war wahrhaft kein leichtes Leben beschieden. Nach dem frühen Tod der Mutter führte sie den Haushalt und sorgte für ihre Geschwister, zehn an der Zahl, und den Vater, der die Geschäfte des Deutschen Ordens führte. Als Goethe zum ersten Mal das Haus der Buffs betrat, war es sogleich um ihn geschehen – Goethe hat die Szene später in seinem Werther verewigt:
    «Da ich in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blassroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab’s jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein: Danke! indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte, ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt entweder wegsprang oder nach seinem stillern Charakter gelassen davonging …»
    Es ist gerade nicht Lottes Schönheit, die Goethe verzauberte, sondern die Anmut, mit der sie ihren häuslichen Verrichtungen nachging und ihren kleinen Geschwistern das Brot schnitt.
    An den unvermutetsten Orten kann einem die Anmut begegnen, auch das lässt sich bei Goethe studieren. Der befreundete Graf in Goethes Wahlverwandtschaften entdeckt sie am Beine Charlottens, wie er ihrem Gatten Eduard gesteht: «Ein schöner Fuß ist eine große Gabe der Natur. Diese Anmut ist unverwüstlich. Ich habe sie heute im Gehen beobachtet; noch immer möchte man ihren Schuh küssen und die zwar etwas barbarische, aber doch tief gefühlte Ehrenbezeugung der Sarmaten wiederholen, die sich nichts Besseres kennen, als aus dem Schuh einer geliebten und verehrten Person ihre Gesundheit zu trinken.» Auf Charlotte ist auch die folgende Beobachtung gemünzt: «Sie hatte geweint, und wenn weiche Personen dadurch meist an Anmut verlieren, so gewinnen diejenigen dadurch unendlich, die wir gewöhnlich als stark und gefasst kennen.»
    Was für viele deutsche Tugenden gilt, trifft auch auf die Anmut zu: Sie strahlt in viele Richtungen, ins Philosophische ebenso wie ins Politische. Schiller hat ihr einen großen Aufsatz gewidmet und sie mit der Idee der Freiheit verbunden: «Anmut ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluss der Freiheit.» Und er hat der Anmut die Würde beigesellt. Verbinden sich Anmut und Würde in einer Person, «so ist der Ausdruck der Menschheit in ihr vollendet, und sie steht da, gerechtfertigt in der Geisterwelt und freigesprochen in der Erscheinung». Ein Ideal, das kaum zu erreichen ist, man erkennt es in den antiken Götterfiguren wie dem Apoll von Belvedere.
    Unter den gekrönten Häuptern in Deutschland gibt es eine Frau, die als Inbegriff der Anmut gilt: Preußens Luise. Schon bei ihrer Hochzeit mit dem preußischen Kronprinzen, dem späteren König Friedrich Wilhelm III., am 24. Dezember 1793, zog sie mit ihrer Natürlichkeit alle in ihren Bann. Als sie das Bürgermädchen, das sie an der Ehrenpforte Unter den Linden mit einem Gedicht willkommen hieß, umarmte und küsste, rief die Oberhofmeisterin, Gräfin Voß, aus: «Mein Himmel! Das ist ja gegen alle Etikette.» Das Hofzeremoniell war nicht für sie erfunden. Zum wachsenden Entsetzen des Hofs grüßte sie die ankommenden Hochzeitsgäste, statt sich grüßen zu lassen, und fiel beim Feste durch Walzer tanzen auf. Ihrem Gatten gebar sie zehn Kinder, darunter den späteren König Friedrich Wilhelm IV. und den

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