Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
«Angeberei». Die Blöcke für den majestätischen Marmorsaal ließ sich Friedrich aus Carrara liefern, für das opulente Deckengemälde verpflichtete er den französischen Hofmaler van Loo. Der sächsischen Kriegsbeute entstammten Spiegel und Porzellan. Beim königlichen Rendezvous mit dem Ruhm zog die Bescheidenheit offensichtlich den Kürzeren.
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Die Bescheidenheit zählt – zusammen mit Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Langmut, Sanftmut, Treue, Enthaltsamkeit und Keuschheit zu den zwölf sogenannten Früchten des Heiligen Geistes. Der deutsche Volksmund hat diesen das Sprichwort entgegengehalten: «Bescheidenheit ist eine Zier/Doch weiter kommt man ohne ihr.» Wer nach oben gelangen will, muss seine Ellenbogen einsetzen – das war und ist die weitverbreitete Meinung des Aufsteigers. In der Gründerzeit des Deutschen Reiches mit ihrer rasant wachsenden Wirtschaftskraft wurde er zum gesellschaftlichen Phänomen: der Parvenü, für den materielles Erfolgsstreben und gesellschaftliche Anerkennung der Kern aller Dinge sind. Theodor Fontane hat in seinen Romanen ein scharfes Bild dieses Menschenschlags in all seiner Hohlheit und «heraufgepufften Unbedeutendheit» gezeichnet. Da ist der Mühlenbesitzer Gundermann im Stechlin , der alles gibt, um den begehrten Adelstitel zu ergattern; und da ist der Kommerzienrat Treibel, der sein Geschäft mit der Herstellung von Preußischblau, der Farbe der Armee, betreibt und damit ein Vermögen gemacht hat, mit seiner Frau Jenny, die sich «aufrichtig einbildet, ein Herz ‹für das Höhere› zu haben», wo ihr Herz doch in Wahrheit nur «für das Ponderable» schlägt, «für alles, was ins Gewicht fällt und Zins trägt». Der Hang zur schönen Kunst ist nur die Staffage eines Standpunktes, «der von Schiller spricht und Gerson (Bleichröder, den berühmten Bankier) meint.» Und ebenso phrasenhaft wie der zur Schau gestellte Hang zur Kunst wirkt die offen herausgekehrte Bescheidenheit. Es bleibt der Witwe des Berliner Schutzmanns Schmolke vorbehalten, diese Einsicht in Worte zu kleiden: «Bescheidenheit ist gut, und eine falsche Bescheidenheit (denn die Bescheidenheit ist eigentlich immer falsch) ist immer noch besser als gar keine.»
Dass der Grobianismus und die damit einhergehende Unbescheidenheit auch durchaus auf Seiten des Adels zu finden war, namentlich unter der Kaste der preußischen Junker: Auch das hat Fontane in seinem Werk anschaulich beschrieben. Die Regentschaft Wilhelms II. erlebte der Dichter nur mehr kurz, er starb zwei Jahre nachdem jener den Thron bestiegen hatte – gewiss hätte er auch dieser Epoche auf seine unverwechselbare Art Ausdruck verleihen können.
«Ein Platz an der Sonne» und «Pardon wird nicht gegeben»: Im deutschen Wilhelminismus hat sich die preußische Bescheidenheit in Luft aufgelöst. Und im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben neben ihr alle jene preußischen Tugenden ihren Glanz und ihre Würde verloren, die mit dem Soldatischen in Verbindung gebracht werden konnten. Sie gingen mit Preußen den Weg in den Untergang. Nicht aber die Tugend der Bescheidenheit. Mit der so genannten Stunde null war ihr in Deutschland eine bemerkenswerte Renaissance beschieden. Nachdem Hitlerdeutschland den Großteil Europas in Schutt und Asche gelegt hatte und die Nation zur Zivilgesellschaft zurückgekehrt war, erlegte man sich selbst das Gebot der Bescheidenheit auf – sowohl in der neugeschaffenen Bundesrepublik Deutschland als auch in der wenige Monate später entstandenen Deutschen Demokratischen Republik. Die Bürde der Schuld wog schwer, und wie selbstverständlich erschienen die Konsequenzen: Nie wieder sollte am deutschen Wesen die Welt genesen. Nie wieder Hunnenreden und militärische Großspurigkeit. Man hatte seine Lektion gelernt, und fortan – so gelobten es die neuen Regenten in West und Ost – wollten sie den anderen Nationen gute Nachbarn sein. Ganz freiwillig erfolgte dieses Bekenntnis zur Bescheidenheit allerdings nicht. Beide deutschen Staaten besaßen bekanntermaßen nur eingeschränkte Souveränität und waren abhängig vom Willen ihrer jeweiligen Besatzungsmächte – der eine, der diktatorisch geführte Staat, mehr als der andere, der demokratische. Eine eigenständige Außenpolitik hätten sie beide gar nicht betreiben können, selbst wenn sie es gewollt hätten. Die neue Hauptstadt der Bundesrepublik, das überschaubare Städtchen Bonn am Rhein, wurde schnell zum sichtbaren
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