Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
sagt die erst 18-jährige junge Frau zu Dr. Julia Hambach, der diensthabenden Ärztin in der Notaufnahme.
Dr. Hambach stellt fest, dass Noah zwei gebrochene Rippen und einen komplizierten Bruch am linken Arm hat. Außerdem Blutergüsse im Gesicht und auf den Armen.
»War Noah denn allein in der Wohnung, als Sie unterwegs waren?«, fragt die Ärztin.
Jessica Michalczik presst die Lippen aufeinander. »Kevin war da – mein Freund«, antwortet sie schließlich. »Bestimmt ist Noah irgendwo runtergefallen, als Kevin gerade nicht im Zimmer war.«
Dr. Hambach hört der jungen Mutter an, dass sie ihren eigenen Worten nicht glaubt. Sie veranlasst, dass der Junge auf der kinderchirurgischen Station versorgt wird. Dann verständigt sie das Jugendamt. Seine zahlreichen Verletzungen kann sich Noah keinesfalls bei einem Sturz von der Wohnzimmercouch zugezogen haben. Allem Anschein nach wurde der kleine Junge schwer misshandelt.
Meik Simmering, der zuständige Sachbearbeiter in einem Jugendamt im Berliner Osten, bekommt den Fall kurz vor Feierabend auf den Tisch. Vor ihm stapeln sich bereits gut 120 Fallakten – das ganz normale Alltagspensum von Jugendamtsmitarbeitern in Berliner Problembezirken.
Kein Wunder, dass Simmerings ältere Kollegen mindestens drei Tage pro Monat wegen Krankheit fehlen. Ab Mitte vierzig sind die meisten total ausgebrannt. Von den Jüngeren hat jeder Zweite einen Versetzungsantrag laufen – zu einer anderen Behörde oder in ein anderes Bundesland. Hauptsache, raus aus dieser Mühle tagtäglicher Überforderung, in der man irgendwann nur noch durch Abstumpfung überleben kann.
Auch Meik Simmering beginnt der ständige Kampf mit Aktenbergen, laschen Gesetzen und knappen Kassen zu zermürben. Doch mit seinen 27 Jahren hat er sich noch einiges an Idealismus bewahrt. Schließlich hat er sich nach dem Abitur für die Sozialpädagogik entschieden, weil er Kindern und Jugendlichen in Bedrängnis helfen wollte. Damit es ihnen nicht so erging wie ihm selbst als kleinem Jungen: Jahrelang war er von seinem Stiefvater verdroschen worden, und weit und breit war niemand gewesen, um ihn zu beschützen. Als angehender Sozialarbeiter hatte sich Meik Simmering geschworen, dass es den Kindern in seinem Zuständigkeitsbereich besser gehen sollte.
Doch nun ist es wieder passiert. Noah, zwei Jahre alt, in seinem eigenen Zuhause krankenhausreif geprügelt. Wo auch sonst, sagt sich Simmering: Der sprichwörtliche »schwarze Mann«, vor dem sich die Kinder in Acht nehmen sollen, ist fast immer ihr eigener Vater oder der Lebenspartner ihrer Mutter.
Meik Simmering füllt die erforderlichen Formulare aus und erstattet bei der Polizei Meldung wegen »Verdachts auf Körperverletzung zum Nachteil von Noah Michalczik«, wohnhaft im Berliner Osten.
Am nächsten Tag erhalten wir einen Anruf vom Landeskriminalamt. Das LKA 125 , zuständig für Gewaltdelikte an Kindern und Schutzbefohlenen, hat die Ermittlungen an sich gezogen. Der zuständige Sachbearbeiter beauftragt unser Institut, Noah rechtsmedizinisch zu untersuchen.
In unserem Gutachten sollen wir vor allem die Fragen beantworten, welche Verletzungen der Junge aufweist, ob sie durch ein Unfallgeschehen entstanden sein können und, wenn nicht, wodurch sie tatsächlich hervorgerufen wurden. Ferner geht es darum, wie alt die Verletzungen sind: Die Mutter hatte in der Klinik angegeben, dass ihr bis dahin noch nie Verletzungen an Noah aufgefallen seien.
Noch am selben Tag machen wir uns auf den Weg zu der Großklinik im Berliner Nordosten. Das LKA entsendet gleichzeitig zwei Polizeibeamte und einen Polizeifotografen, der die äußerlich sichtbaren Verletzungen am Körper des Jungen fotografisch dokumentieren soll.
Als wir den Untersuchungsraum in der Klinik betreten, sitzt Noah schon auf dem Behandlungstisch und sieht uns mit starrer Wachsamkeit entgegen. Diese Haltung »gefrorener Aufmerksamkeit«
(frozen watchfulness)
ist typisch für akut oder chronisch misshandelte Kinder. Selbst bei der Untersuchung durch eine fremde Person halten sie vollkommen still, und auch wenn eine Berührung oder Bewegung ihnen Schmerzen verursacht, zucken sie höchstens kurz zusammen.
Mit großen, traurigen Augen sieht Noah zu, wie er von einer Kinderkrankenschwester entkleidet wird und wir ihn untersuchen. Sein Körper ist mit Schwellungen und Blutergüssen übersät. Als wir behutsam seinen gebrochenen Arm berühren, schießen ihm die Tränen aus den Augen. Aber er gibt weiterhin
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