Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
aktuellen Freund, egal wie der gerade hieß. Sie verprügelten ihn, sperrten ihn in eine fensterlose Kammer, ließen ihn hungern, drückten ihre Zigarettenkippen auf seinem Arm aus. »Wir hatten einen Schäferhund, einen Rüden, der wie wild gebellt hat, wenn er nervös war«, gab Kevin weiter zu Protokoll. »Ich musste dem verdammten Vieh immer einen runterholen, damit es Ruhe gab. Wenn ich mich geweigert habe, wurde ich so lange verdroschen, bis ich gemacht habe, was sie von mir wollten.«
Marion Henske und Jens Polder wechseln einen Blick. Diese Geschichte ist selbst für abgebrühte Ermittler nicht leicht zu verdauen.
»In der Familienhierarchie«, sagt die Oberkommissarin, »war sogar der Köter wichtiger als der Sohn. Erst kam die Mutter, dann der jeweilige Lover, dann der Hund – und ganz unten in der Hackordnung stand Kevin.«
Bei der erneuten Vernehmung konfrontieren sie Kevin Büttner mit ihren Ermittlungsergebnissen.
»So wie Sie als Kind vom jeweiligen Freund Ihrer Mutter verprügelt worden sind, ganz genauso haben Sie den Sohn Ihrer Freundin misshandelt«, hält ihm Marion Henske vor.
Kevin Büttner zuckt mit den Schultern. »Die verdammte Kröte hat ständig rumgenervt«, gibt er zurück. »Kann schon sein, dass ich dem Kleinen mal eine gelangt habe.«
»Sie haben ihm nicht nur eine gelangt!«, entgegnet Jens Polder in scharfem Ton. »Sie haben ihm den Arm gebrochen – so!«
Er hält ihm seine beiden Fäuste vor die Nase und verdreht sie ruckartig gegeneinander. Kevin Büttner sieht ihm mit ausdruckslosem Gesicht dabei zu …
Ein krasser Einzelfall? Leider nicht. Einige Details mögen ungewöhnlich sein, das Grundmuster ist es keineswegs.
Generation Kevin: Fast ein Viertel ist gewalttätig
Die Zahl der gefährlichen und schweren Körperverletzungsdelikte durch jugendliche und heranwachsende Gewalttäter steigt in Deutschland seit vielen Jahren mit alarmierenden Zuwachsraten. Eine wesentliche Ursache hierfür ist die alltägliche Gewalterfahrung von Kindern und Jugendlichen in den Familien – nicht zu Kaisers Zeiten, als die »Erziehung mit dem Rohrstock« noch gang und gäbe war, sondern im 21 . Jahrhundert in Deutschland.
Seit November 2000 haben Minderjährige hierzulande ein gesetzlich verbürgtes
»Recht auf gewaltfreie Erziehung«,
doch das scheint die Eltern in vielen Fällen nicht zu kümmern.
»Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig«,
heißt es unmissverständlich im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 1631 BGB ).
Um dieses Recht gegen gewalttätige Eltern oder deren jeweilige Lebensgefährten durchsetzen zu können, sind die Kinder auf die Jugendämter angewiesen, die vom Gesetzgeber als Wächter des Kindeswohls eingesetzt worden sind. Doch diese Wächter verschließen viel zu oft ihre Augen und Ohren vor den Verletzungen und Hilfeschreien ihrer misshandelten Schützlinge.
Eine aktuelle Studie von 2013
(Bayer-Gewaltstudie)
zeigt, dass und wie aus kindlichen Gewaltopfern mit hoher Wahrscheinlichkeit erwachsene Gewalttäter werden:
Fast ein Viertel der befragten Kinder und Jugendlichen ( 22 , 3 Prozent) gab an, dass sie von Erwachsenen – in der Regel Eltern oder deren Lebenspartnern – »oft« oder »manchmal« geschlagen würden.
Bei den Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachem Milieu macht der Anteil der oft oder manchmal Misshandelten sogar fast ein Drittel ( 32 , 5 Prozent) aus.
17 , 1 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien wurden so heftig geschlagen, dass sie blaue Flecken bekamen. (Bei den Kindern und Jugendlichen aus sozial durchschnittlichen oder privilegierten Familien waren es »nur« 6 , 6 Prozent bzw. 1 , 4 Prozent.)
Andere Studien kommen zu sehr ähnlichen Resultaten. So stellen das Bundesfamilien- und das Bundesjustizministerium 2003 in einer gemeinsamen Untersuchung fest:
In 17 Prozent aller Familien werden gesetzlich verbotene, für das Kindeswohl schädliche Maßnahmen wie schwere körperliche Strafen oder demütigende Sanktionen eingesetzt.
54 Prozent aller Eltern setzen zumindest »leichte körperliche Bestrafungen« wie Ohrfeigen als »Erziehungsmittel« ein.
Lediglich in 28 Prozent der Familien kommen körperliche Strafen nicht oder so gut wie nie vor.
Diese Zahlen sollten uns nicht nur aus Mitgefühl mit den misshandelten und gedemütigten Kindern aufrütteln. Schon der schlichte Egoismus gebietet es, gewalttätigen Eltern das Handwerk
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