DGB 12 - Verlorene Söhne
oder
einer, der um jedes Körnchen Wahrheit ringen muss. Mein Gefühl sagt mir, dass
Ersteres auf Sie zutrifft.«
»Früher ja«, gestand Ahriman
ihm ein, während Lemuel in dessen Aura Stolz, aber auch Bedauern las. »Ich
konnte die Zukunft mühelos aus dem Äther holen und meine Gefolgschaft auf den
erfolgreichsten Wegen durch den Krieg und das Lernen führen, aber heute muss
ich selbst für den winzigsten Blick auf die Strukturen der Zukunft hart
kämpfen.«
»Was hat sich geändert?«
Ahriman stand auf und ging um
den Tisch herum, nahm den Kartenstapel in die Hand und mischte sie geschickt.
Er hätte Croupier sein können, überlegte Lemuel. Die Lässigkeit und
Fingerfertigkeit, mit der er die Karten handhabte, war unglaublich, und dabei
schien er nicht mal zu bemerken, was er eigentlich tat.
»Die Gezeiten des Großen Ozeans
sind ständig im Wandel begriffen, die Einflüsse schwellen an oder lassen nach. Was
gerade noch eine tosende Strömung ist, kann sich im Bruchteil einer Sekunde in
ein Rinnsal verwandeln. Eine sanfte Welle kann zu einer alles verschlingenden
Sturmflut heranwachsen. Die Macht eines jeden Gläubigen steigt und fällt mit
diesen Schwankungen, denn der Große Ozean ist eine wankelmütige Geliebte, deren
Interessen jederzeit umschlagen können.«
»Sie reden darüber, als würde
es sich um ein lebendes Wesen handeln«, entgegnete Lemuel und bemerkte Ahrimans
wehmütigen, entrückten Gesichtsausdruck. Plötzlich lächelte der Astartes und
legte die Karten zurück auf den Tisch.
»Möglicherweise ja«, stimmte er
Lemuel zu. »Die Seeleute auf Terra behaupteten früher oft, sie hätten zwei Ehefrauen,
nämlich zum einen die, die zu Hause auf sie wartete, und zum anderen die See.
Jede war auf die andere eifersüchtig, und es hieß, dass eine von beiden den Seefahrer
irgendwann das Leben kosten würde. Wenn man sich so nahe am Äther befindet,
dann ist das, als würde man in zwei Welten gleichzeitig stehen. Beide sind gefährlich,
aber ein Mann kann zu lesen lernen, wann sie sich annähern und wann sie sich
entfernen. Der Trick besteht darin, diese Momente zu lesen und sich auf der
jeweiligen Welle der Macht mittragen zu lassen, so lange sie anhält.«
Lemuel beugte sich vor und
tippte mit einem Finger auf die goldene Rückseite der Karten. »Ich glaube
nicht, dass ich den Trick bereits beherrsche.«
»Nein, Wahrsagung ist nicht
Ihre Stärke«, stimmte Ahriman ihm zu. »Allerdings lassen Sie eine gewisse
Begabung darin erkennen, den Äther zu lesen. Vielleicht sollte ich für Sie ein
Treffen mit Uthizzar von den Athanaeanern arrangieren. Er kann diesen Bereich
Ihrer Psyche fördern.«
»Ich höre immer wieder von
diesen verschiedenen Kulten, aber wozu diese Spezialisierung?«, wollte Lemuel wissen.
»Die Sangoma, von denen ich
gelernt habe, waren Männer und Frauen, die dem Volk ihrer Townships auf viele
verschiedene Weise dienten. Sie beschränkten sich nicht auf ein einzelnes
Fachgebiet. Warum ist Ihre Legion in so viele Kulte unterteilt?«
»Die Sangoma, von denen Sie
reden, haben nur den winzigsten Bruchteil des Großen Ozeans berührt, Lemuel. Der
niedrigste Probekandidat der Thousand Sons weiß und beherrscht mehr Mysterien
als der begabteste Sangoma.«
»Daran habe ich nicht den
geringsten Zweifel«, sagte er und trank wieder einen Schluck Wein.
»Aber trotzdem — warum so viele
verschiedene?«
Ahriman lächelte ihn an.
»Trinken Sie aus, dann werde ich Ihnen alles über Magnus' erste Reise in die
Einöden von Prospero erzählen.«
»Prospero ist ein Paradies«,
begann Ahriman, »ein wundervoller Planet von Licht und Schönheit. Seine Berge sind
aus strahlendem Weiß und wirken wie hoch aufragende Zähne, die Wälder sind
üppiger, als es sich irgendjemand vorstellen kann, und in den Ozeanen wimmelt es
von Leben. Es ist eine Welt, die zum Ruhm zurückgekehrt ist, doch so war es
nicht immer. Lange vor der Ankunft von Magnus war Prospero so gut wie
verlassen.«
Er nahm eine Schachtel aus
kaltem Eisen aus dem obersten Fach des Bücherregals und legte sie vor Lemuel auf
den Schreibtisch.
Dann öffnete er sie, und zum
Vorschein kam ein grotesker Schädel, der eindeutig nichtmenschlicher Herkunft
war. Seine Oberfläche war dunkel und glänzend, als hätte man ihn lackiert. Er
war von länglicher Form, hatte vorgestreckte Beißzangen und zwei riesige
Augenhöhlen. Der Schädel hatte etwas eindeutig Insekten-artiges an sich und sah
schlichtweg abstoßend aus.
»Was ist das?«,
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