Diabolos (German Edition)
ich weiß, was sich dort versammelt hat. Aus dem Haushaltsraum hole ich eine halbvolle Flasche Lampenöl, Flüssiggrillanzünder, Grillkohle und Altpapier, das wir dort gesammelt haben. Die Grillkohle schütte ich auf das Bett, das Papier zerknülle ich und verteile es darum. Anschließend leere ich beide Flaschen großflächig darüber, werfe sie in die Ecke und betrachte mein Werk.
Abschied. Abschied für immer. Mein Hals ist zu rau, um schlucken zu können, Trauer und Wut lodern in mir, aber keine weitere Träne soll hier vergossen werden. Aus der Küche hole ich ein Feuerzeug und den Autoschlüssel für den Sprinter. Im Flur werde ich unsicher und doch breitet sich in mir eine weitere starke Woge Trauer aus, sodass sich meine Augen erneut mit Wasser füllen. Anstatt das Feuer zu entfachen, gehe ich zum Nachtschrank und ziehe eine Schublade hervor. Obenauf liegt mein Mutterpass. Ich zögere, bin unsicher, greife danach und schlage ihn auf. Das letzte Ultraschallbild. 15te Woche, ein Mädchen. Ich lege eine Hand auf meinen Bauch und streichele das Wunder darin, den Mutterpass drücke ich an meine Brust. Welch ein Wahnsinn! Mir kommt der Gedanke, mich hier mit meinen Liebsten zu verbrennen, aber ich verwerfe ihn. Zu unsicher. Ich nehme die Ultraschallbilder heraus, stecke sie vorsichtig, fast zärtlich in meine Hosentasche. Unter den Mutterpass halte ich das Feuerzeug und warte bis die Flammen kräftig zündeln. Ich werfe ihn auf das Bett. Es steht augenblicklich in Flammen. Abschied für immer. Ich verlasse meine Familie, verlasse das, was für mich meine Heimat war und laufe durch die Nacht, um mich auf eine längere Reise zu begeben.
Ich hatte schon mehrere Semester Kulturwissenschaften, bestehend aus Ethnologie und Volkskunde, in Hamburg studiert, ehe ich meinen Themenschwerpunkt fand. Der Dozent Robert Jäger gab ein Seminar mit dem Titel ›Der kulturelle Umgang mit dem Tod‹. Er galt als Koryphäe auf diesem Gebiet und ich fühlte mich mit einer aufgeregten Faszination dazu hingezogen. Bei der Referatsvergabe schlug ich das Thema ›Stillgeburten‹, also totgeborene Kinder und den Umgang damit vor und Dr. Jäger war sofort begeistert davon. Ich forschte mit einem Kommilitonen zusammen und beide arbeiteten wir uns in die Materie wie besessen hinein. Wir besuchten öffentliche Trauerfeiern der Krankenhäuser für stillgeborene Kinder, die in einer Sammelurne beigesetzt wurden, besorgten uns die Bestattungsgesetze aller Bundesländer, interviewten betroffene Mütter und Väter, besichtigten und analysierten ausgewiesene Kinderfriedhöfe bzw. entsprechende Sektionen auf den großen Friedhöfen, interviewten Theologen, Ärzte, Trauerbegleiter und Bestatter. Am Ende hatten wir Material für eine Abschlussarbeit und ich hatte noch immer nicht genug. Vielmehr dachte ich, ich hätte den Tod von der theoretischen Seite gut kennengelernt und durch die Teilnahme an verschiedenen Bestattungen – ich war in der Ethnologie auf der Suche nach unterschiedlichen Raumkonzepten und besuchte zahlreiche Bestattungen von Verstorbenen mit einem fremden kulturellen Kontext – habe ich einen oberflächlichen Eindruck von der Arbeit mit dem Tod kennengelernt, aber bis dato wusste ich nicht, wie der Tod riecht, wie er sich anfühlt, wie er aussieht. Ich bewarb mich um eine Praktikumsstelle bei einem alternativen Bestatter in Hamburg und absolvierte ein dreiwöchiges Praktikum als Bestatterin. Und gleich am ersten Tag bekam ich eine Leiche zu Gesicht. Eine Überführung aus dem Hospiz zur Kühlhalle auf dem Bahrenfelder Friedhof. Eine Frau war ihrem Krebsleiden im Alter von 54 Jahren erlegen. Der Raum, das Sterbezimmer, war mit allerlei familiären Andenken wie Fotos, Kuscheltieren und Blumen geschmückt, sie selbst lag wachsweiß und ausgemergelt in halbhoher Position in ihrem Bett. Ich sog alles auf. Alles, was der Tod in diesem Raum ausstrahlte. Ein leicht muffiger und schwer süßlicher Geruch mischte sich mit dem Bouquet der Blumen und des Desinfektionsmittels. Die Fenster waren geschlossen und die Heizung eine Nuance zu hoch reguliert gewesen. Kindergesichter strahlten aus Bilderrahmen und ich nahm in Schnelle an der an den Fotografien absehbaren Entwicklungen der jeweiligen Personen teil. Ihre Kinder waren groß geworden und hatten selbst Kinder bekommen. Zwei Enkelkinder erkannte ich zwischen Gladiolen und Nelken, ein Teddybär stand dazwischen, ein selbstgemaltes Bild von Kinderhand zeigte zwei unterschiedlich große
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