Dich schlafen sehen
wenn ich mich heute dazu zwinge, meine Erinnerungen Stück für Stück wieder zusammenzusetzen, dann tue ich das deshalb, weil ich inzwischen einen gewissen Abstand gewonnen und erkannt habe, dass sie die Vorzeichen einer unheilbar gewordenen Besessenheit waren. Und das ist das Wagnis, das ich heute eingehe: Ich spreche.
Ich tue es aus Scham, unter einem inneren Zwang, aus Wut, auch weil ich leide. Man schreibt, wie man tötet: Es kommt aus dem Bauch, und dann, ganz plötzlich, bricht es einem aus der Brust. Wie ein Schrei der Verzweiflung.
Die erste Wahrnehmung, an die ich mich erinnere, ist der Geruch einer Bluse. Wahrscheinlich aus Seide, jedenfalls aus einem sehr weichen Stoff, der über die Wölbung eines üppigen Busens fiel. Der Geruch war der einer Frau. Ein blumiger Duft, vielleicht Magnolie, und sinnlich, durch eine würzige Note zur Geltung gebracht, und das Ganze erinnerte manchmal an den Geruch von Gesichtspuder, das Frauen benutzen...
Und dieser Duft ging von einem Hals aus. Einem Hals mit einer Perlenkette, mit der meine Finger unentwegt spielen mussten. Dieser Hals war leicht faltig; er gehörte einer korpulenten Frau mit feuchter Haut. Die Haut sprach. Ich schnupperte den Duft ihres Parfums und schlief in ihren samtweichen Armen ein – Maman.
Tausend Erinnerungen gehen mir im Kopf herum.
Ich fühle den Sommer. Sehe wieder meine wilden Ausreißversuche im kühlen und feuchten Gras, eine Vierjährige, die, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen, in einem großen Garten herumhüpfte. Ich erinnere mich an den Geruch von Heu und das Niesen im Staub, das borkige Streicheln der Bäume, die Risse in ihrer Rinde. An die zärtliche Berührung der Erde, des Schlamms, dazu die kalte, aber angenehme des Wassers, wenn ich, die Hosenbeine bis zu den aufgeschürften Knien hochgekrempelt, durch den kleinen Bach vor dem Haus der Großeltern watete. Den sirupartigen Geschmack der ersten Früchte, deren Saft auf unsere Zungen und zwischen unsere verklebten Finger tropfte, wenn wir sie im hintersten Winkel eines alten Obstgartens stibitzten. Der Sommer schmeckte nach brauner Erde und feuchtem Gras, nach brennendem Sand und Salz.
Weit weg vom Sommer war Paris. Eine Wohnung unterm Dach, die Wände sehr hoch, die Türen gewaltig. Die verschlungenen Flure führten in riesige Zimmer, in denen eine feierliche Stille herrschte. Alles war weiß, die Kacheln, die Wände, der Raum.
Ich erinnere mich an die Stille, die je nach Tages- und Nachtzeit unterschiedlich war, an das lange Alleinsein in dieser Welt, die zu groß war für ein Kind: Da war zunächst jene am Morgen, das Brummen der ersten Autos auf dem Boulevard, die Mattigkeit, das diffuse Halbdunkel, wenn die Fensterläden noch nicht geöffnet waren, das Ticken der Küchenuhr, das Rascheln der Seiten von Papas Zeitung, dieses seltsame Schwindelgefühl, das mich jedes Mal wie Angst befiel, wenn er gehen musste und ich mit der Tagesmutter allein blieb. Dann jene am Nachmittag, der ferne und gedämpfte Lärm in den Straßen der Stadt, in den Stunden, in denen die Wohnung vollkommen leer war. Und schließlich die Stille am Abend, wenn ich, allein in meinem Zimmer, als Letzte einschlief und ganz nah an meinem Ohr das Raunen der Nacht zu hören meinte.
Ich konnte Stunden in diesem Zimmer verbringen und zusehen, wie die Sonne mit den Schatten hinter den Vorhängen spielte. Ich liebte die Leere, die rings um das Zimmer herrschte, mit mir als Mittelpunkt von allem. Diese Beschaulichkeit, diese Vollkommenheit, nach der ich strebte, machte mich glücklich und ängstlich zugleich. Ich brauchte dieses Gefühl der Verlassenheit.
Aus dieser Wohnung steigen immer neue wirre Eindrücke auf. Meine Kindertränen, ihr salziger Geschmack, wenn sie mir über die Wangen rollten und auf meinen Lippen zerflossen. Papas Stimme im Halbdunkel meines Zimmers, wenn er mir jeden Abend vor dem Einschlafen dieselbe Geschichte erzählte, die ich mit der Zeit auswendig kannte, die Bartstoppeln auf meiner Stirn, wenn er mir eine gute Nacht wünschte und ich so tat, als sei ich eingeschlummert. Die Kissenschlachten mit meinem Bruder, die heimlichen Streiche, die Hopser auf dem Bett, das Gezanke, das immer in schallendem Gelächter endete.
Was für ein Kind bin ich also gewesen?
Meine Mutter beschrieb mich als Quälgeist. Als Wildfang, frech, nicht »normal«. Vielleicht. Meine Mutter redete viel. Häufig nur um zu sagen, dass sie nicht zufrieden war.
Ich erinnere mich an ein schwieriges kleines
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