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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brasme
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Schülerinnen, die mich in ihrer Clique duldeten, gehörten im Allgemeinen zu den Klassenbesten. Für mich waren sie dumme Hühner. Unsere Gesprächsthemen gingen nicht über den engen Horizont unseres wohl geordneten Pennälerlebens hinaus. Ich spielte nur eine Rolle. Und ich hasste meine Rolle. Ich verstand die anderen nicht, alles, was sie unternahmen, alles, was sie sich wünschten, widerte mich an und ging mir auf die Nerven. Es gelang mir nie richtig, mich in die Klasse zu integrieren. Und so war es keine Überraschung, dass ich irgendwann wieder ganz allein war. Und das, so denke ich, hatte ich mir von Anfang an gewünscht.
    Ich glaubte, Hass gegen meine Mitschülerinnen zu empfinden, heute weiß ich, dass es nur Gleichgültigkeit war. Der langweilige Unterricht und die Zähigkeit, mit der sich jeder Tag, jede Stunde hinschleppte, waren mir unerträglich. Nichts erlöste mich aus diesem eintönigen Leben, ich war am Ende. Alles widerte mich an. Ich spürte in meiner Brust einen Kloß, der mir die Kehle zudrückte und den Atem nahm. Dieser Schmerz in meinem Innern war wie ein Schrei der Ohnmacht, der nie hervorbrechen konnte.
    Und zur selben Zeit begann, verspätet und schmerzlich, meine Jugend.
    März. Wir haben Sportunterricht im Schwimmbad des Collèges. Nach einer anstrengenden Stunde mustere ich im Umkleideraum so unauffällig wie möglich die nackten Körper der anderen Mädchen. Ich selbst bin mager und knochig, ganz anders als sie. Mein Gesicht ist kantig, meine Miene finster. Ich habe keine Ausdruckskraft, kein Lächeln, nicht die geringste Ausstrahlung, kein Feuer. Ich hasse meinen vorpubertären, anomalen Körper. Ich fühle mich schmutzig und unnütz. Ich beneide sie um ihre strahlenden Gesichter, ihre luftig schimmernden Haare, ihre nach Babypuder riechende Haut. Als ob ihnen Anmut und Grazie angeboren wären. Und mir nicht. Ich betrachte ihre sinnlichen Körper und träume davon, meinen eigenen zu verstümmeln. Ich betrachte mich in dem großen Spiegel der Schwimmhalle: Ich sehe einen hässlichen Schatten. Nasse Haarsträhnen schmiegen sie in eisiger Liebkosung an meine Wangen, und unansehnliche Pickel sprießen in der Höhle meines Gesichts. Die gelbliche Haut und die fettigen Haare ekeln mich an. Wenn ich könnte, würde ich auf das Spiegelbild spucken und dann schreiend den Spiegel zertrümmern, so sehr verabscheue ich mich. Ich habe Angst. Ich träume von einem anderen Ich, davon, erwachsen zu werden, frei zu sein. Ich bin fast dreizehn und habe noch immer keine Regel. Wenn ich so weitermache, werde ich nie erwachsen. Und wenn ich abends in meinem Bett weine, höre ich immer dasselbe Flüstern: »Du bist ein Monster, Charlène. Ein Monster. Es wäre besser, du bringst dich um.«
    Eines Tages habe ich es versucht. Ich habe so getan, als würde ich verschwinden, nur um zu sehen, wie die anderen reagieren.
    Es war an einem Montag, und wir stiegen die Treppe zum dritten Stock hinauf. Die Treppe war so schmal, dass ich das Gefühl hatte, von der Menge der anderen Schüler erdrückt zu werden und zu ersticken. Irgendwann habe ich beschlossen, dass ich es nicht mehr aushalte. Also rutschte ich aus und ließ mich langsam und sachte fallen. Ich hatte das Gefühl zu verschwinden, von der Menge verschluckt zu werden. Ich sank nach hinten und purzelte über die Stufen. Ich schloss die Augen, und ich roch den Fußboden, spürte, wie Füße auf mir herumtrampelten, mir auf die Haare traten. Als der Sturz endete, blieb ich reglos liegen, die Nase im Staub, Tränen in den Augen, und ich fühlte mich schmutziger und lächerlicher als je zuvor. Eine Aufsicht kam und half mir auf. Ich schützte ein Unwohlsein vor. Sie nahm mich an der Hand und führte mich ins Krankenzimmer. Ich wartete, bis meine Mutter mich abholte und nach Hause brachte. Danach schloss ich mich in meinem Zimmer ein und wartete darauf, dass jemand kam, der mein trauriges Los beklagte, mich bemitleidete und für immer diesem Leben entriss, das so ungerecht war.
    Um die Jahresmitte änderte sich allmählich mein Blick auf die Welt. Ich suchte meinen Frieden zu machen, mich zu erneuern. Im Grunde wusste ich, dass ich für dieses Leben nicht geschaffen war, dass auch in mir eine aufgeblühte Charlène schlummerte, die ich nur aufwecken musste. Also begann ich zu träumen, um die Realität zum Schweigen zu bringen. Abends vor dem Einschlafen dachte ich mir unwahrscheinliche Geschichten aus, machte aus mir eine Märchenheldin. Ich träumte davon, zu

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