Dich schlafen sehen
Leben verschwinden. Doch stattdessen flüsterte ich nur in die nächtliche Stille:
»Es ist besser, wenn du nach Hause gehst. Ich bin in Eile, lass mich.«
»Charlène, was hast du?«
Die Wahrheit brannte mir auf den Lippen. Er war näher getreten und hielt mich an den Armen fest.
»Also gut. Wenn du darauf bestehst, will ich offen zu dir sein. Wir dürfen keine Freunde sein. Du halst dir damit nur Ärger auf. Du verdienst etwas Besseres. Du kennst doch die Gerüchte, die über mich kursieren. Ja, es ist wahr, mit dreizehn wollte ich sterben, du weißt, ich bin nicht wie die anderen. Aber wieso erzähle ich dir das alles eigentlich? Du solltest gehen, dich von mir fern halten. Ich bin kein Mädchen für dich, ich habe deine Freundschaft nicht verdient. Du hast bestimmt Besseres zu tun, als mit einer wie mir deine Zeit zu vergeuden, das garantiere ich dir. Du bist doch erst sechzehn, lerne jemand anders kennen, amüsier dich, bitte, Maxime. Mir liegt zu viel an dir, als dass ich dich...«
»Hör auf.«
Der schroffe Ton seiner Stimme ließ mich verstummen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Maxime nur noch Zentimeter von mir entfernt war. Ich spürte seinen Atem. Wortlos schlang er die Arme um mich. Ich bekam ein mulmiges Gefühl im Magen, aber es rührte nicht von Angst. Ich ließ mich von ihm küssen, von ihm drücken. Er schenkte mir die Wärme einer Liebe, die mir bis dahin noch niemand gegeben hatte.
Wir waren sehr glücklich miteinander, und unser Glück wurde im Lauf der Monate noch größer. Ich hatte noch nie etwas Vergleichbares erlebt. Ich wurde ein normaler Mensch. Ein Mädchen wie jedes andere, wie man sie tagtäglich vor jedem Gymnasium trifft. Ich spürte, wie ich auflebte, ich begann, mich selbst zu ertragen, mich zu akzeptieren, mich beinahe zu lieben. Und ich liebte Maxime, ohne dass es zu Missstimmigkeiten kam, ohne dass ich die Kontrolle verlor, ohne quälende Gedanken, ich liebte, ohne zu hassen, genau wie die anderen, als sei es die einfachste Sache von der Welt.
Ich liebte ihn so sehr, dass ich Sarah vergaß. Dass ich das Interesse an ihr verlor. Dass ich nicht mehr die leise Stimme in mir hörte. Dass man meinen konnte, ich sei für immer geheilt.
In seinen Armen fühlte ich mich geborgen und geliebt. Ich sog den Geruch seines Pullovers ein, wenn wir Hand in Hand durch die Stadt gingen. Ihm nah zu sein, sein Gesicht und seine Hände zu betrachten, ihn zu riechen, dem Bogen seiner Lippen nachzuspüren, alle diese kleinen Dinge machten mich glücklich. Ich lernte zu lachen, nicht mehr die Augen niederzuschlagen, wenn er mich ansah, ließ mir »Ich liebe dich« ins Ohr flüstern und glaubte ihm jedes Wort, jedes Versprechen. Ich lernte ganz einfach zu leben.
Ja, ich glaube, so ungefähr ist es, wenn man liebt.
Nach einiger Zeit wollte Maxime unbedingt meine Eltern kennen lernen. Ich sah nicht recht ein, wozu das gut sein sollte. Bis dahin hatte ich mich ihnen nicht sonderlich oft anvertraut, und die Vorstellung, ihnen meinen Freund vorzustellen, war mir eher peinlich; sie wussten nicht viel über ihn, nur dass er für ihre Tochter wohl mehr als nur ein einfacher Freund war. Doch Maxime hatte mich so gedrängt, dass ich eines Abends nachgab.
Er kam um sieben. Ich öffnete ihm die Tür, und er gab mir nur einen Kuss auf die Wange, wahrscheinlich aus Verlegenheit vor meinen Eltern. Mit einer schüchternen und linkischen Bewegung überreichte er meiner Mutter einen blauen Blumenstrauß und meinem Vater eine Flasche Beaumes de Venise.
Meine Eltern mochten Maxime auf Anhieb. Seine Natürlichkeit, seine Offenheit, sein Humor, seine Lebensfreude, alles, was mir gefallen hatte, nahm auch sie für ihn ein, und mit derselben Leichtigkeit. Bestimmt dachten sie, dass es zum Teil auch ihm zu verdanken war, wie sehr ich mich in den letzten Monaten verändert hatte. Irgendwann an diesem Abend stand plötzlich die Zeit still. Alle waren sie da, Maxime, meine Eltern, Bastien, all die Menschen, die ich liebte und die mich liebten. Ich war mit ihnen zusammen. Und ich begriff, dass ich glücklich war.
Um neun, als wir zu Ende gegessen hatten, gingen Maxime und ich Hand in Hand in die kalte Nacht hinaus. Er sagte mir, dass er meine Eltern sehr sympathisch finde. Meine Mutter sei charmant und mein Vater sehr humorvoll. Er sagte mir, dass er mich liebe. Er sagte es immer wieder und wollte gar nicht mehr damit aufhören. Aus alter Gewohnheit schauten wir auf einen Sprung im Café de l'Harmonie vorbei, dann
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