Dich schlafen sehen
ich es vor, ihm auszuweichen, mich nicht zu weit vorzuwagen, die Dinge nicht zu überstürzen. Zugegeben, ich brannte vor Neugier, ihn besser kennen zu lernen. Aber nicht sofort. Wenn ich in diese Augen blickte, gab ich schon zu viel von mir preis.
Er begann zu sprechen. Seine Stimme war klar, sanft und feierlich zugleich. Ich hing an seinen Lippen, ließ mir kein Wort entgehen. Ich hatte sofort das Gefühl, dass ich es mit einem außergewöhnlichen Menschen, einer spannenden Persönlichkeit zu tun hatte.
Ich lauschte seinen Worten, als er sagte, er wolle Notarzt werden, weil er das Risiko und das Unvorhersehbare liebe, die Anspannung, die Herausforderung. Er erzählte mir, dass seine Mutter vor ein paar Jahren gestorben sei und dass er seitdem bei seiner älteren Schwester lebe, seinen Vater erwähnte er mit keinem Wort. Nach und nach erfuhr ich, was für ein Mensch er war. Wie er mir gestand, schwärmte er für Bildhauerei ebenso wie für Videospiele, für Sciencefiction wie für klassische und zeitgenössische Literatur – Zola, Steinbeck und Duras waren seine Lieblingsschriftsteller. Er sei ein Fan von Rodin und Picasso, von Bob Marley, Chopin und Zinédine Zidane und schwankte zwischen der Musik von Pink Floyd und afroamerikanischem Rhythm & Blues. Und dann fügte er hinzu, dass er den Lehrer in Betriebswirtschaftslehre nicht leiden könne und dass er hocherfreut wäre, wenn ich ihm die letzte Übung in Chemie erklären könnte, denn er habe nicht die Bohne verstanden.
Bis dahin hatte ich Maxime, sofern ich mir überhaupt über ihn Gedanken machte, für einen verschlossenen Jungen gehalten, der sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Jetzt stellte ich fest, dass er ausgeglichen und ganz anders war, als ich erwartet hatte. Komischerweise gefiel er mir. An diesem Tag brachte er mich sogar zum Lachen. Das war seit Sarah niemandem mehr gelungen.
Und dennoch trübte eine allgegenwärtige Angst mein Glück. Was, wenn er dahinter kam? Wenn er in meinen Augen las, was mit mir los war?
Ich wollte keine Beziehung eingehen. Er war viel zu scharfsinnig, um nicht zu kapieren, was los war.
Ich weiß nicht, was Maxime dazu bewogen hat, sich an diesem regnerischen Morgen im Frühherbst mit mir anzufreunden. Am frühen Abend, nach der Schule, ging er mit mir in das Café in der Rue de l'Harmonie. Wir setzten uns an den gewohnten Tisch, er bestellte einen Espresso, ich eine heiße Schokolade, wir rauchten schachtelweise Camel, die mir zu stark waren, sodass mir manchmal schwindlig wurde. Er sprach, und ich lauschte gespannt jedem Wort. Ich selbst hatte nichts zu sagen. Wenn er mich etwas fragte, antwortete ich so knapp wie möglich, um mich nicht zu verraten. Unsere Freundschaft war noch zu zerbrechlich, um mir anmerken zu lassen, dass ein schreckliches Geheimnis auf mir lastete.
Wir blieben immer sehr lange in dem Café, manchmal bis es zumachte. Und anschließend ließ ich mich von ihm bis zur Haustür bringen. Dort trennten wir uns, und wenn er ging, sah ich ihm wehmütig nach.
Manchmal lud er mich auch zwischen zwölf und zwei Uhr zum Mittagessen in die kleine Wohnung im 14. Arrondissement ein, wo er mit seiner Schwester, seinem Schwager und seinen beiden Neffen wohnte. Ich wurde immer mit offenen Armen empfangen. Beim Essen redete er ununterbrochen, und alle hörten mit amüsiertem und gerührtem Blick zu. Er redete so viel, dass er kaum etwas aß. Sein Benehmen, seine leichte Tapsigkeit, seine Zuvorkommenheit, alles an ihm bezauberte mich, alles an ihm holte mich nach und nach in ein normales Leben zurück.
Die Wohnung war viel zu klein für fünf Personen. Ich erinnere mich noch an sein Zimmer unterm Dach, eine winzige Kammer, die nie aufgeräumt war. Dutzende von Postern hingen an den Wänden, hauptsächlich alte Kinoplakate, und Schwarzweißfotos – fast alle zeigten seine Mutter. Nur die Bücher in den Regalen waren sorgfältig nach Kategorien geordnet. Und als er für mich zum ersten Mal die Pforten zu seinem geheimnisvollen Reich aufstieß, machte er das Klappfenster weit auf und raunte mir ins Ohr: »Das ist meine Welt!«
Vor unseren Augen reihten sich die Dächer von Paris bis zum Horizont. Er gestand mir, dass er vor mir noch nie ein Mädchen mit auf sein Zimmer genommen habe. Ich lächelte. Mit einem Mal fühlte ich mich unverwundbar. Er war da, dicht neben mir, ich war glücklich. Vielleicht zu sehr.
Maxime wurde mein Freund, und das machte mir manchmal schwer zu schaffen. Ohne dass ich ihn um etwas
Weitere Kostenlose Bücher