Dickner, Nicolas
befürchten, ich mache mich einfach so davon und lasse sie sitzen mit der ganzen Buchhandlung allein auf ihren Schultern.
Es stimmt, dass ich neuerdings den Kopf woanders habe.
Ich verbringe all meine freie Zeit damit (und das schließt einen bedeutsamen Teil der Stunden ein, die normalerweise dem Schlaf gewidmet sind), meine Wohnung leerzuräumen. Ich sortiere die alten toten Dinge, staube sie einzeln nacheinander ab und katapultiere sie in ein neues Leben. Die Möbel und das Geschirr zur Heilsarmee. Allen blödsinnigen Nippes zum Antiquitätenhändler. Den diversen Plunder – Stereo-anlage, Perlenvorhänge, Schreibtischlampe, Taschenlampe, Kerzenständer, Boulekugeln, künstlicher Weihnachtsbaum, Tritthocker – auf den Flohmarkt. Die Bambuspflanze, der Spinnenbaum und die Papyrusstaude kommen in die Obhut der Nachbarin. Die alten Steuererklärungen und der Schriftkram von der Regierung ins Altpapier. Alles restliche Zeug, das nicht klassifizierbare, nicht reparierbare, stopfe ich ohne viel Aufhebens in ultradicke Plastiksäcke, der Müllabfuhr zur Freude.
Selbstverständlich haben meine Bücher ein Anrecht auf privilegierte Behandlung. Die wertvollsten von ihnen habe ich wasser- und luftdicht eingepackt im hintersten Keller verstaut, in dem berühmten Kabuff mit den Seeigeln, und habe die anderen hierhin mitgebracht, um sie für einen Dollar das Stück zu verramschen.
Alle diese Umstürze führen dazu, dass mir die dümmsten Fehler unterlaufen: Ich vertue mich beim Zusammenrechnen der Preise, ich räume die Bücher falsch ins Regal, achte nicht mehr auf Ladendiebe – überzeugt, dass die einzige Bücherdiebin, auf die es lohnt, ein Auge zu haben, sich ohnehin nicht mehr in diesem Laden blicken lassen wird. Ich habe nichtsdestoweniger einige Tage gebraucht, um mich davon zu überzeugen. Auch wenn ich zwei Trupps der Nationalpolizei beim Filzen ihrer Wohnung überrascht hatte, hegte ich dennoch eine geringe Hoffnung, dass Joyce Montréal nicht verlassen würde. Ich durchpflügte die Zeitungen, um das Motiv für die Hausdurchsuchung zu erfahren, aber nirgends wurde davon berichtet. Die Chefs vom Dienst sahen darin offenbar keinen Stoff für Schlagzeilen – sicher, weil die Hauptbeteiligte noch immer auf freiem Fuße herumspaziert. Und ich wartete darauf, dass sie in der Buchhandlung aufkreuzt, ausstaffiert mit Sonnenbrille und einer blauen Perücke.
Mehrere Tage sind vergangen. Eingetaucht in die Kälte des Dezember komme ich schnell zu dem einzigen Szenario zurück, das einleuchtet: Joyce sitzt ganz offensichtlich irgendwo unter einer Kokospalme, die Füße im warmen Sand, ein Glas Rum Añejo in der Hand.
Ich habe also entschieden, mein Schicksal in die Hand zu nehmen. Es ist höchste Zeit, die Gravitation der Bücher zu verlassen. Ich werde ohne Reiseführer aufbrechen, ohne Enzyklopädie, ohne Prospekt, ohne Phrasebook , ohne Fahrplan und Straßenkarte. Manchmal betrachte ich die Regale mit einem Seufzen. Die Buchhandlung wird mir zweifellos ein bisschen fehlen – aber es kommt vor allem darauf an, dass ich meinen eigenen Weg finde, meine eigene kleine Providenz.
Glöckchengebimmel, eisiger Wind: Ein Mann und ein Kind kommen in die Buchhandlung. Der Mann schlottert in einem karierten Herbstmantel, das Kind ist eingepackt in drei Schichten Wolle und mehrere Schals. Sie schütteln sich den Schnee von den Sohlen, knöpfen die Mäntel auf. Es umgibt sie ein feiner Duft nach Holzkohle, karamelisiertem Fleisch und Nelken. Die beiden kommen ganz eindeutig gerade von Dunkel’s, dem jüdischen Imbiss gegenüber.
Während das Kind sich mit der Vorsicht eines Sioux zu den Regalen vorwagt, nähert sich der Mann dem Tresen. Ich erwische ihn dabei, wie er mit sonderbarem Gesicht unsere Stellenanzeige betrachtet.
„Interessiert?“, frage ich ihn.
Er schüttelt den Kopf; ich bin in einer Laune, dass ich nachbohren möchte – als sei ich, aus irgendeinem rätselhaften Grund, davon überzeugt, dass dieser Mann für diesen Job genau der Richtige ist.
„Da haben Sie Unrecht, es ist die perfekte Stelle: mittelmäßiges Einkommen, aber viel Zeit zum Lesen.“
„Ich werde darüber nachdenken“, antwortet er mit einem Lächeln. „Aber jetzt erst mal, haben Sie Bücher über Dinosaurier?“
„Eine ganze Sammlung! Schauen Sie am Ende des dritten Ganges, unter dem flackernden Neonlicht.“
Überflüssig, das Gesagte zu wiederholen: Das Kind hat sich bereits im Laufschritt in den dritten Gang verflüchtigt.
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