Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
demnach ein Teil des Grals. Und wir alle wären auf die eine oder andere Art und Weise Gralssucher. Und das macht den Stoff so aktuell. Zu den Bearbeitungen des Parzivalstoffs im engeren Sinne gehören in jedem Fall Wagners Oper
Parsifal
(uraufgeführt 1882) und Adolph Muschgs Roman
Der rote Ritter. Eine Geschichte von Parzivâl
aus dem Jahre 1993.
9. Wie menschlich sind Tiere in der Tierepik? Mit dem Begriff der Tierepik bezeichnet man eine nicht nur, aber vor allem im Mittelalter stark ausgeprägte Traditionslinie, Probleme der menschlichen Gesellschaft abzuhandeln, indem man Tiere als Akteure auftreten lässt, die Menschen oder besser: Typen menschlichen Verhaltens und menschlicher Einstellungen verkörpern. Ein herausragendes Beispiel bilden die vielfältigen Bearbeitungen jenes Stoffes, der auch heute noch unter dem Namen
Reineke Fuchs
bekannt ist. Der Fuchs galt seit jeher als besonders schlau und listig. Schlauheit ist eine bestimmte Kompetenz, die – wie man heute sagen würde – zwischen Intelligenz und sozialer Kompetenz changiert.
Im 12. Jahrhundert formiert sich aus diesen Geschichten ein erstes Tierepos, das selbst wiederum auf antike Vorformen und insbesondere die äsopischen Fabeln zurückgeht, in denen auch schon der Fuchs schlau agiert. Ein Autor mit Namen Heinrich aus dem Elsass verfasst das erste deutsche Tierepos
Reinhart Fuchs
ungefähr zwischen 1177 und 1197. Diesem geht bereits eine mittellateinische Fassung wohl aus dem Jahr 1148 oder etwas später mit dem Titel
Ysengrimus
voraus, die – was aber ungeklärt ist – von einem gewissen Magister Nivardus stammen sollte. Später wechselt der Fokus vom Opfer, dem Wolf Isegrim, zum Täter, zum Fuchs, Reynke, Reinke, Reinecke, Reinhart, Reinaert oder Renart mit Namen. Vor allem der in mittelniederdeutscher Sprache verfasste und 1498 in Lübeck gedruckte
Reynke de vos
wurde zum Volksbuch und zum Bestseller, der noch weit ins 16. Jahrhundert hinein seine Wirkung entfaltete. Eine wichtigeBrückenfunktion in der Tradierung des Stoffes hatte sicherlich auch Goethes Bearbeitung dieses Stoffes aus dem Jahre 1793.
Reineke macht sich verschiedenster Vergehen schuldig und stört damit die soziale Ordnung des Tierreichs gewaltig. Er wird vor Gericht zitiert, muss sich verantworten. Genau dies ist Teil seiner List: aus Situationen heraus, in denen er in die Defensive gedrängt wird, sofort in die Offensive zu gehen. Dem Todesurteil entkommt er mit List, doch er zieht keine Lehre daraus. Im Gegenteil: Er begeht noch dreistere Schandtaten, zum Beispiel diejenige, die Frau Isegrims zu vergewaltigen. Als es zum Zweikampf mit Isegrim kommt, geradezu ein Todesurteil für den Fuchs, der Isegrim körperlich deutlich unterlegen ist, kann Reineke Isegrim abermals überlisten und somit zum Rat des Königs aufsteigen, was schon in seinem sprechenden Namen angelegt ist, geht doch das Reinke oder Reineke auf das Wort für Rat zurück.
Die Tiere sind nicht nur eine Sammlung menschlicher Eigenschaften in Tiergestalt, sondern sie stellen auch eine Gesellschaft und dort, wo es um den König der Tiere geht, insbesondere auch eine Hofgesellschaft dar. Das ist ein Sozialgefüge, unter dessen Oberfläche List und Betrug, Intrige und Lüge regieren. Insofern ist dieser Text auch als Hofsatire zu lesen, aber soziologisch steckt noch wesentlich mehr darin, denn es geht um ein Grundproblem jeder Gesellschaft. Der Fuchs kann seine besondere Stellung deswegen so gut behaupten, weil er es am besten versteht, sich dieser Mittel zu bedienen. Damit wird aber auch die Frage aufgeworfen, wie denn Gesellschaften funktionieren können, wenn sie darauf angewiesen sind, einen Ausgleich zwischen individuellen und sozialen Anforderungen zu finden. Mit diesem Tierepos haben wir es – so könnte man sagen – mit einer Soziologie
avant la lettre
zu tun. Ihre Grundsatzfrage lautet also zugespitzt: Wie kann man das Asoziale sozialisieren?
10. Was hat das Liebesabenteuer eines Mädchens mit dem Selbstbewusstsein eines Autors zu tun? Man weiß relativ wenig über ihn, und doch ist er zur Ikone geworden, nicht zuletzt zu einer Ikone für lyrische Dichtung. Die Rede ist von Walther von der Vogelweide (der zwischen 1170 und 1230 gelebt haben dürfte). Er hat sich selbst und er wurde auch als Cantor bezeichnet – das ist durchaus bemerkenswert. Seine Gedichte kennt man nur durch spätere Aufzeichnungen, insbesondere aus der
Großen Heidelberger Liederhandschrift
,die selbst wohl erst um 1300
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