Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
entstanden ist. Er war eine Ausnahmeerscheinung und war es eben auch nicht. Er war Teil eines literarischen Feldes und ragte doch daraus hervor. Das lässt sich bis in die wenigen biographischen Details, die man von ihm kennt, hinein verfolgen. Ein Datum sticht heraus: Am 12. November 1203 erhält Walther von der Vogelweide fünf Schilling oder Goldtaler, um sich einen Pelzmantel zulegen zu können. Das ist einerseits ein stattlicher Lohn für seine Tätigkeit als Autor und Sänger, denn genau in diesem Kontext wird er als Cantor bezeichnet, andererseits aber doch ein Beleg für seine Abhängigkeit. Einerseits handelt es sich um die ihm zustehende Belohnung für seine künstlerische Tätigkeit, wie man seinen Texten entnehmen kann, und somit um eine Bestätigung für sein Selbstbewusstsein und sein Selbstbild, andererseits aber doch um so etwas wie Almosen, denn das Geld bekommt er genau nach dem Sankt Martinstag als ein Beispiel seiner ‹Kleiderspende›.
Ob es auch dieses wirtschaftliche Denken war, das Walther von der Vogelweide dazu brachte, andere Konzepte der Minne zu entwickeln? Wenn man den Gesamtkontext berücksichtigt und bedenkt, wie sehr Inhalt und Aufführungssituation ineinander übergehen, so wäre diese Idee nicht allzu abwegig, denn auch in der Minne geht es um den Lohn. In der hohen Minne bestand der Lohn – in einer radikalisierten selbstbezüglichen Rückwendung – im Dienen selbst. Walther von der Vogelweide ist bei weitem nicht der Einzige, der von diesem Modell abweicht und ein Modell der niederen Minne oder manchmal auch Mädchenminne genannten Form favorisiert, wo der Lohn eben doch darin besteht, mit der umworbenen Frau sinnliches Glück zu genießen. Heute erscheint uns der mehr oder weniger offene Ausdruck des Zusammenhangs von Liebe und Sex eine sehr moderne Angelegenheit zu sein, und doch finden wir bei Walther von der Vogelweide ein berühmtes Gedicht, das diesen Sachverhalt auf bewundernswerte Weise zum Ausdruck bringt:
Under der linden
. Dass das lyrische Ich ein einfaches Mädchen aus der Landbevölkerung ist, ist allein schon bemerkenswert. Aber was sie uns beichtet oder vielmehr lustvoll singend berichtet, hat es in sich, denn es ist nichts weniger als ein sexuelles Liebesabenteuer unter freiem Himmel. Unter der Linde hat sie mit einem jungen Mann, einem Freund, über den wir wenig erfahren, Liebe gemacht. Die Spuren kann man noch erkennen, weil auf der Wiese Gras und Blumen niedergedrückt sind, wo die Liebenden lagen und wo der Geliebte dem Mädchen einLiebeslager bereitet hat, das explizit als Bett bezeichnet wird. Dass das Mädchen ihr Lied mit einem Ausruf «hêre frouwe» (wörtlich: hehre Frau) unterbricht, den man mit «heilige Jungfrau» übersetzen könnte, setzt dem Ganzen die Krone auf. Um es offen zu sagen: Als sie an jenen Moment denkt, in dem sie ihre Jungfernschaft verloren hat, ruft sie eine andere Jungfrau an, und zwar aus tiefem Lustempfinden: «sælig», also selig oder glücklich nennt sie sich selbst. Diese Liebe darf nicht bekannt werden – aus moralischen oder aber aus Standesgründen. Das Liebesabenteuer wird so verschwiegen und doch gleichzeitig offenbart. Und gerade diese Konstruktion verrät ein souveränes Spiel mit den literarischen Möglichkeiten. In dieser Weise bestehende Modelle zu überschreiten, mit Formen und Inhalten zu spielen ist Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins, das zugleich literarische Struktur geworden ist.
11. Wie muss man leben, um sich zu Literatur zu machen? Er muss ein faszinierender Mann gewesen sein. Ein Portrait, das in der Innsbrucker Liederhandschrift seiner Texte überliefert ist, zeigt ihn mit seinem kantigen Schädel, ein Auge geradezu schalkhaft zugekniffen. Untersuchungen an seinem Skelett haben allerdings ergeben, dass aufgrund einer Missbildung die eine Augenhöhle wohl kleiner war als die andere, was übrigens auch zum Erblinden führen kann.
Oswald von Wolkenstein war ein Mann, der Gewalt ausgeübt und der Gewalt erfahren hat, und das nicht wenig, wenn es galt, zum Beispiel bestimmten Forderungen in einem Rechtsstreit auch mit körperlichem Einsatz, ja sogar mit Folter Nachdruck zu verleihen. Eine andere Stelle seines Skeletts gibt darüber Auskunft. Zudem war er als Diplomat und Politiker in ganz Europa unterwegs. Und schließlich liebte er auch das Leben in seiner ganzen Fülle. So war er ein herausragender Esser und Zecher und er liebte die Frauen und den Sex.
Und schließlich könnte man sagen, dass
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