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Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Titel: Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Moehrs
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Flucht setzte aber körperliche Aktivität voraus, wir mußten uns so schnell wie möglich durch das Geröll wühlen und draußen kraftvoll abspringen, ein paar Meter fallen, so glücklich wie möglich aufkommen und dann sofort lossprinten, bevor der Tornado wieder richtig in Gang kam. Unsere Knochen, Muskeln und Sehnen würden sich während der Flucht - hoffentlich! - wieder verjüngen, aber auch die Reflexe mußten stimmen. Also begannen wir mit einem täglichen Drill, der von den Tornadobewohnern, die sich fürs Bleiben entschieden hatten, herzlich belacht Wurde:
    Wir begannen den Tag mit einem Treppenlauf, einmal runter, einmal rauf. Zehn Minuten verschnaufen.
    9 345 436 ... 9 345 435 ... 9 345 434 ...
    Als nächstes waren Liegestütze an der Reihe, fünfzig Stück, ohne abzusetzen. Das klappte natürlich erst nach einigem Training.
    8 905 778 ... 8 905 777 ... 8 905 776 ...
    Kniebeugen, für die Wadenmuskulatur. Einhundert pro Tag.
    7 670 886 ... 7 670 885 ... 7 670 884 ...
    Noch ein Treppenlauf, anschließend eine halbe Stunde Yoga zum Entspannen. Dann eine Partie Treppengolf zum Zeitvertreib.
    6 567 113 ... 6 567 112… 6567 111 ...
    Klimmzüge.
    5 654 336 ... 5 654 335 ... 5 654 334 ...
    Bauchübungen.
    4 111 699 ... 4 111 698 ... 4 111 697 ...
    Schattenboxen.
    3 458 224 ... 3 458 223 ... 3 458 222 ...
    Seilspringen.
    2 444 679 ... 2 444 678 ... 2 444 677 …
    Rumpfbeugen.
    l 343 667 ... l 343 666 ... l 343 665 ...
    Letzter Treppenlauf. Und ab ins Bett. So ging das fast ein ganzes Jahr lang, Tag für Tag. Wir waren die fittesten 100jährigen innerhalb eines Perpetuummobile-Tornados in ganz Zamonien.
    Der große Tag war nahegerückt. Den letzten Monat verbrachten wir damit, unser Hab und Gut an die anderen Tornadobewohner zu verteilen. Meine handschriftliche Abschrift der Lebensgeschichten wollte ich Phonzotar schenken.
    »Nein danke«, sagte er. »Ich komme lieber mit.«
    »Du willst mitkommen? Nach dem, was dir bei deinem Fluchtversuch in der Wand widerfahren ist?«
    »Ich habe nachgedacht«, antwortete er. »Meinen Verstand bin ich ja schon los. Vielleicht kriege ich ihn sogar wieder zurück. Was habe ich also zu verlieren?«
    86 400 ... 86 399 ... 86 398 …
    Der letzte Tag war gekommen. Keiner von uns hatte die letzten zwei Nächte geschlafen. Im letzten Moment waren außer Phonzotar noch zwei weitere Tornadoinsassen umgekippt, sie mußten jetzt mit einem Notprogramm fitgemacht werden. Die Zurückbleibenden hatten eine rührende Abschiedsfeier veranstaltet, mit selbstgebackenem Kuchen, handgemalten Transparenten (»Viel Glück!« »Hals- und Beinbruch!« »Ihr Idioten!«). Es gab manch tränenreiche Verabschiedung unter alten Freunden (hier hatte das Wort noch echte Bedeutung). Pathetische Reden wurden geschwungen, alte Zeiten beschworen - ich konnte nur hoffen, daß das alles bald vorbei war, bevor sich doch noch ein paar aus Sentimentalität entschieden, im Tornado zu bleiben. Dann stiegen wir hinab in den unteren Bereich des Wirbels.
    65 524 ... 65 523 ... 65 522 …
    Dies war mit Sicherheit der längste Tag meines Lebens, obwohl ich ihn an einem Ort verbrachte, an dem es gar keine Zeit gab. Jede einzelne Sekunde von ihm lief in Form einer Schweißperle an mir herab.
    12 345 ... 12 344 ... 12 343 ... Letzte Lockerungsübungen.
    1432 ... 1431 ... 1430 ...
    Plötzlich kamen mir massive Bedenken. Ich hatte nicht den geringsten Beweis dafür, daß mein Plan in die Tat umgesetzt werden konnte. Ich führte uns alle ins Verderben.
    233 ... 232 ... 231 ...
    Die letzten vier Minuten. Noch konnte ich alles stoppen. 120... 119... 118...
    Zwei Minuten. Was wäre, wenn wir alle endeten wie Phonzotar Hueso? Ein Tornado voller Verrückter! Ich entschied, die Aktion abzubrechen. Oder doch lieber nicht ...?
    60 ... 59 ... 58 ...
    Die letzte Minute. Ich entschied mich zu fliehen.
    20... 19... 18...
    Abbrechen.
    14... 13... 12...
    Fliehen.
    10... 9...
    Abbrechen.
    7 ... 6 ...
    Fliehen.
    5...4...
    Abbrechen.
    3, 2, l ... Null!
    Na schön: Fliehen!
    Der Tornado kam knirschend zum Stillstand. Uns stand genau eine Minute zur Verfügung, unser wanderndes Gefängnis zu verlassen. Jeweils zwanzig Mann wühlten sich gleichzeitig durch die Tornadowand, jede Gruppe hatte zehn Sekunden. Ich und Balduan waren bei der letzten. Es verlief alles nach Plan: Nach fünfzig Sekunden waren fast alle draußen.
    Noch zehn Sekunden. Balduan, die anderen und ich stürzten uns kopfüber in das Tornadogeröll. Keine unangenehmen Empfindungen,

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