Die Abenteuer des Sherlock Holmes
dennoch scheint mir dieser John Openshaw noch größeren Gefahren ausgesetzt zu sein als die Sholtos.«
»Aber«, fragte ich, »haben Sie denn schon eine genaue Vorstellung davon, was diese Gefahren sind?«
»Ihre Natur steht völlig außer Frage«, antwortete er.
»Welche Gefahren sind es denn? Wer ist dieser K.K.K., und warum verfolgt er diese unglückliche Familie?«
Sherlock Holmes schloß die Augen, legte die Fingerspitzen aneinander und stützte die Ellbogen auf die Sessellehnen. »Der ideale Denker«, stellte er fest, »wird, wenn man ihm eine einzige Gegebenheit mit ihrer ganzen Tragweite gezeigt hat, daraus nicht nur die ganze Kette von Ereignissen deduzieren, die zu dieser Tatsache geführt hat, sondern auch alle Ergebnisse, die daraus folgen müssen. Wie Cuvier nach der Betrachtung eines einzigen Knochens ein ganzes Tier zutreffend beschreiben konnte, so sollte auch der Beobachter, der ein Bindeglied in einer Reihe von Ereignissen gründlich begriffen hat, imstande sein, alle anderen, die vorhergehenden wie die nachfolgenden, genau darzustellen. Wir haben die Ergebnisse, zu denen allein der Verstand gelangen kann, noch nicht erreicht. Im Studierzimmer sind durch den Verstand Probleme lösbar, an denen all jene verzweifelt sind, die eine Lösung mit Hilfe ihrer Sinne gesucht haben. Um diese Kunst jedoch auf ihre höchste Spitze zu treiben, muß der Denker unbedingt fähig sein, alle Tatsachen zu verwenden, die zu seiner Kenntnis gelangt sind, und wie Sie sicherlich einsehen, impliziert dies den Besitz allen Wissens, was sogar in diesen Tagen der kostenlosen Bildung und der Enzyklopädien selten erreicht wird. Nicht ganz so unmöglich ist es jedoch, daß jemand alles Wissen besitzt, das ihm für seine Arbeit nützlich sein kann, und ich habe, was mich betrifft, dies zu erreichen gesucht. Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie bei einer Gelegenheit in den Anfangstagen unserer Freundschaft meine Grenzen sehr genau festgelegt.«
»Ja«, erwiderte ich lachend. »Es war ein ausgefallenes Dokument. Philosophie, Astronomie und Politik waren, wie ich mich erinnere, mit Null beziffert. Botanik unterschiedlich, Geologie tiefschürfend, was Schmutzflecken aus jedem Gebiet innerhalb eines Radius von fünfzig Meilen um London angeht, Chemie exzentrisch, Anatomie unsystematisch, Sensationsliteratur und Verbrechensakten einzigartig, Geigenspieler, Boxer, Fechter, Rechtsgelehrter und Selbstvergifter mittels Kokain und Tabak. Ich glaube, das waren die Hauptpunkte meiner Analyse.«
Holmes grinste beim letzten Punkt der Aufzählung. »Nun ja«, meinte er, »heute wie damals sage ich, daß man den kleinen Dachboden seines Gehirns mit allem Mobiliar ausrüsten sollte, das man wahrscheinlich benötigen wird, und den Rest sollte man in der Rumpelkammer seiner Bibliothek unterbringen, wo man es erreichen kann, sollte man es haben wollen. Für einen Fall wie den, der uns heute abend vorgelegt worden ist, müssen wir sicherlich alle Hilfsquellen anzapfen. Geben Sie mir doch bitte den Buchstaben K der
American Encyclopedia
herunter; sie steht auf dem Bord neben Ihnen. Danke. Nun lassen Sie uns über die Situation nachdenken und schauen, was wir daraus deduzieren können. Zunächst können wir mit der sicheren Annahme beginnen, daß Oberst Openshaw einige sehr gute Gründe hatte, Amerika zu verlassen. Männer in seinem Alter ändern nicht einfach so all ihre Gewohnheiten und tauschen freiwillig Floridas reizvolles Klima um das einsame Leben in einer englischen Provinzstadt ein. Seine maßlose Liebe zur Einsamkeit in England legt die Idee nahe, daß er in der Furcht vor etwas oder jemandem lebte, der ihn aus Amerika vertrieben hatte. Was oder wer es war, den oder das er fürchtete, darauf können wir nur schließen, indem wir die furchterregenden Briefe untersuchen, die er und seine Nachfolger erhalten haben. Haben Sie sich die Poststempel dieser Briefe gemerkt?«
»Der erste kam aus Pondicherry, der zweite aus Dundee und der dritte aus London.«
»Aus Ost-London. Was deduzieren Sie daraus?«
»Das sind alles Seehäfen. Der Schreiber war an Bord eines Schiffes.«
»Ausgezeichnet. Damit haben wir schon einen Hinweis. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß es eine Wahrscheinlichkeit – eine starke Wahrscheinlichkeit – dafür gibt, daß der Briefschreiber an Bord eines Schiffes war. Und nun lassen Sie uns einen weiteren Punkt bedenken. Im Fall Pondicherry vergingen sieben Wochen zwischen der Drohung und ihrer Erfüllung, im
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