Die Abenteuer von Aguila und Jaguar
auf der Schwelle kannte er nicht. Kurz durchzuckte ihn der Gedanke, er habe sich in der Tür geirrt, aber da sprang Borobá mit einem Satz auf seine Schulter, schlang ihm zur Begrüßung überschwänglich die Arme um den Hals und biss ihn ins Ohr. Aus dem hinteren Teil der Wohnung rief seine Großmutter nach ihm.
»Ja, Kate, ich bin’s«, antwortete er, noch immer verdattert.
Da lächelte Nadia ihn an, und sofort war sie wieder das Mädchen, das er kannte und liebte, wild und golden. Sie umarmten sich, Alex ließ die Tulpen fallen und hob Nadia mit einem Arm um die Hüfte und einem Freudenschrei hoch, während er mit deranderen Hand die Wodkaflasche festhielt und versuchte, den Affen abzuwehren. Kate schlurfte heran, entwand ihm den gefährdeten Wodka und knallte mit einem Fußtritt die Wohnungstür zu.
»Hast du gesehen, wie Nadia sich zugerichtet hat? Wie eine Mafiabraut«, schnaubte sie.
»Sag uns, was du wirklich denkst, Oma«, lachte Alex.
»Nenn mich nicht Oma! Sie hat das Kleid hinter meinem Rücken gekauft, ohne mich um Rat zu fragen!«
»Ich wusste gar nicht, dass du dich für Mode interessierst«, sagte Alex mit einem scheelen Blick auf ihre ausgebeulte Hose und das papageienbedruckte Hawaiihemd.
Nadia trug Schuhe mit hohen Absätzen und war in einen schwarzen Satinschlauch gezwängt, kurz und trägerlos. Zum Glück ließ sie sich von Kates Urteil nicht beeindrucken. Sie drehte sich für Alex einmal um die eigene Achse. Viel Ähnlichkeit hatte sie nicht mit dem Mädchen in kurzen Hosen und mit Federn im Haar, das er kannte. An den neuen Anblick würde er sich erst gewöhnen müssen, aber er war hoffentlich nicht von Dauer. Mit seiner früheren Aguila war er sehr froh gewesen und wusste nicht recht, wie er sich gegenüber dieser neuen Version benehmen sollte.
»Du musst mit einer Vogelscheuche zur Abschlussfeier, Alexander. Peinlich, aber wahr«, sagte Kate mit einer Kopfbewegung zu Nadia. »Komm, ich will dir was zeigen …«
Sie schob Nadia und Alexander in ihr winziges und staubiges, mit Büchern und Papieren vollgestopftes Arbeitszimmer. Die Wände verschwanden unter Fotos aus den letzten Jahren. Alex entdeckte die Indianer vom Amazonas, die für die Diamantenstiftung vor der Kamera posierten, daneben hing ein Bild von Dil Bahadur, Pema und ihrem Kind im Reich des Goldenen Drachen, darüber Bruder Fernando in seiner Missionsstation in Ngoubé, darunter Angie Ninderera und Michael Mushaha auf einem Elefanten … Sein Blick fiel auf ein Titelbild des International Geographic aus dem Jahr 2002, das einen wichtigen Preis gewonnen hatte und von Kate gerahmt worden war. Joel hatte es auf einem Markt in Afrika gemacht: Es zeigte ihn mit Nadia und Borobá, wie sie einen wild gewordenen Vogel Strauß abwehrten.
»Hier, die drei Bücher sind fertig«, sagte Kate. »Als ich deineNotizen gelesen habe, war mir klar, dass du nicht zum Schriftsteller taugst, du hast überhaupt kein Auge für die Details. Als Arzt braucht man das wahrscheinlich nicht, die Welt ist ja voll von Kurpfuschern, aber für eine gute Geschichte ist das unmöglich.«
»Ich habe kein Auge, und Geduld habe ich auch nicht, Kate, deshalb hast du meine Notizen ja bekommen. Du kannst besser schreiben als ich.«
»Ich kann fast alles besser als du, mein Kleiner«, lachte sie und verstrubbelte ihm mit einem Handstreich die Haare.
Nadia und Alex betrachteten sich die Bücher mit einer sonderbaren Wehmut, denn sie enthielten alles, was sie in diesen drei Jahren der Reisen und Abenteuer erlebt hatten. Vielleicht würde es nie mehr eine so aufregende und geheimnisvolle Zeit in ihrem Leben geben. Aber zumindest waren ihre Freunde, die Geschichten und alle ihre gemeinsamen Erfahrungen in den Büchern festgehalten. Durch das, was Kate geschrieben hatte, würden sie ihnen immer gegenwärtig sein. Sie konnten die Abenteuer von Jaguar und Aguila in Händen halten, die Stadt der wilden Götter, das Reich des Goldenen Drachen und den Bann der Masken …
ENDE
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