Die Ängstlichen - Roman
sich kurz vor Johannas Anruf zubereitet hatte, und starrte hinunter in die Parkanlage, wo der Sturm die Blumenrabatten umzupflügen begann. Die windgeschüttelten Bäume streckten ihre kahlen, arthritisch gebogenen Äste in den pechschwarzen Himmel, so als flehten sie irgendeinen Allmächtigen an, ihr jämmerliches, schutzloses Leben zu verschonen. In mächtigen Schüben ging der Regen über der kleinen Parkanlage nieder, und es würde sicher keine Stunde mehr dauern, bis das Unwetter den Rasen in eine einzige formlose Schlammmasse verwandelt hätte.
»Ich rufe dich an, sobald ich mehr weiß«, sagte Ben mit Blick auf die ihm gegenüberliegenden, nur noch in Umrissen erkennbaren Häuser.
»Ist gut«, antwortete Johanna, und sie beendeten das Gespräch.
Ben starrte weiter hinaus, denn die schwach erkennbaren Lichtschächte, die zwischen den einzelnen Gebäuden bis in die Abenddämmerung vorstießen, erinnerten ihn an den Moment, als er Janek das letzte Mal gesehen hatte. Sie waren einander zufällig auf der Straße begegnet, Ben war mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause gewesen.
Nach einer Reihe unterschiedlicher Jobs war Janek zuletzt, das hatte er jedenfalls behauptet, als Vertreter herumgereist und hatte versucht, Lebensversicherungen zu verkaufen.Gelegentlich hatte er von ganz ordentlichen Provisionen geredet. Doch was er wirklich trieb, hatte Ben nicht erfahren. Einer seiner polnischen Landsleute hatte ihm den Job besorgt. Mehr als einmal hatte Ben gedacht: Janek und Versicherungen? Das ist doch ein Witz! Davor hatte Janek mit Autoersatzteilen gehandelt, hatte Kotflügel, Auspuffanlagen, Heckklappen und Lichtmaschinen veräußert, die er auf nächtlichen Raubzügen von den Schrottplätzen der näheren Umgebung stahl, in seiner Werkstatt aufarbeitete und verkaufte. Mit dem erbeuteten Diebesgut legte er ein stattliches Ersatzteillager an. In der Scheune, die an seine zugige Werkstatt grenzte und deren schadhaftes Dach er zuvor tagelang instand gesetzt hatte, hatte er immer häufiger auch Lackierarbeiten vorgenommen, manchmal ganze Autos gespritzt. Janeks Geschick hatte Ben von Anfang an fasziniert, sein leichthändiger, ja fast zauberisch zu nennender Umgang mit Holz, Messing, Aluminium oder auch Plexiglas, so als bestehe zwischen den Werkstoffen und ihm eine geheime Übereinkunft, ein magisches Bündnis, das jedes noch so widerspenstige Material unter seinen Händen geschmeidig und gefügig werden ließ.
An den Wochenenden trieb Janek sich mit Bekannten in Lokalen oder auf der Rennbahn in Frankfurt-Niederrad herum, brachte sie manchmal hinterher mit nach Hause – Polen allesamt, die sich um den Küchentisch in Johannas Wohnung versammelten, rauchten und Wodka tranken und im Licht der Deckenlampe unter wabernden Rauchschwaden laut und wild durcheinanderredeten. Hätte Ben, angefangen bei den ersten fünf Jahren im Kinderheim, seine bisherige Lebenslinie auf ein Stück Papier malen und mit kleinen erläuternden Symbolen oder Zeichnungen versehen sollen, so wäre an den entscheidenden Eck- oder Wendepunkten Janeks lächelndes Gesicht zu sehen gewesen, in dessen Mundwinkel ein qualmender Zigarettenstummelklebte. Gefolgt von einem
Papilio machaon
, einem Schwalbenschwanz, und einer Mandoline.
Johanna und Janek waren seit langem ein Paar (allerdings hatten sie sich Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit strikt untersagt), zunächst im Verborgenen, doch am Ende sogar mit Zustimmung von Johannas Mann Paul, der, als seine Parkinson-Erkrankung ebenso weit fortgeschritten war wie seine geistige Verwirrung, nicht mehr imstande war, die Rolle des Familienoberhaupts auszuüben.
Paul Jansen war am letzten, einem strahlenden Julitag des Jahres 1968, morgens gegen zehn, von nicht endenden Durchfällen zu einem Nichts aus Haut und Knochen ausgezehrt und geistig umnachtet, hinter beigefarbenen Krankenzimmervorhängen gestorben, die das helle Sonnenlicht in einen bernsteinfarbenen Nebel verwandelt hatten. Das Thermometer war an diesem Sommertag auf maßlose 37 Grad Celsius geklettert, und aus den Schulen waren die Kinder, die wegen Hitzefrei vorzeitig nach Hause gehen durften, in die Stadt, den Eisdielen zu, geströmt.
Ü ber den Himmel zuckten Armaden gleißender Blitze, wütend und neutronenhell, und schrieben kryptische Muster in die aufgewühlte künstliche Nacht, begleitet von Serien schmetternder Donnerschläge. Mit unbarmherziger Wucht drückte der Wind gegen parkende Autos, Mülltonnen und Strommasten und riss
Weitere Kostenlose Bücher