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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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achtundsiebzig Jahren gebracht. Und hatte sie früher Gefallen daran gefunden, in ganz seltenen, kostbaren Momenten das Grundrauschen des Lebens und der Welt störungsfrei vernehmen zu können, ohne permanent das eigene Selbst in seiner ganzen lästigen Kompliziertheit mitdenken zu müssen, so kam sie sich inzwischen wie eine geschundene Kreatur vor, versklavt und um das Schönste überhaupt beraubt: das Gefühl, sich ganz allein zu gehören.
    Johanna erhob sich, lief, das spitze Kinn energisch nach vorn gereckt, aus dem Wohnzimmer und bewegte sich langsam durch die von plötzlicher Finsternis verdunkelten Räume, Bens einstiges Zimmer und weiter in die Diele, in der das Telefon stand. Sie schaltete in der Küche das Licht ein, worauf augenblicklich alle Resthelligkeit draußen im Garten hinter den nassen Fensterscheiben zurückwich.
    Sie nahm ein Glas aus dem Hängeschrank, drehte den Wasserhahn auf und füllte es. Dann trank sie in kleinen, gleichmäßigen Schlucken, um das Brennen in ihrem Schlund zu mildern. Ach, diese lästigen Störungen, dachte sie.
    Sie vermisste Janek, wie sie so dastand am Spülstein. Mit in den Nacken gelegtem Kopf versuchte sie vergeblich einen vielleicht in den Vorhängen konservierten Hauch seines würzigen Zigarettentabaks zu erschnuppern. Ohne Zweifel war alles leichter, wenn er nicht im Haus war und sie mit seiner Kleinlichkeit, seinem manipulativen Starrsinn und seinem Drang, alles dominieren zu wollen, eine Zeitlang verschonte.Und natürlich bestand ihr Verhältnis längst aus jener ritualisierten, im Alter noch zunehmenden Abhängigkeit, die sie zu Knechten ihrer einst getroffenen Abmachungen gemacht hatte. Nun aber, da sie, zur Einsamkeit verurteilt, mit ihrem Arsenal geladener Giftpfeile dastand, die sie für gewöhnlich wollüstig in Janeks Richtung abschoss, ehe sie, von ihren kleinen, immerwährenden Scharmützeln ermattet, in die Betten sanken, und sie sich vorzustellen versuchte, wo er in dieser Sekunde bloß sein mochte, bekam seine Abwesenheit plötzlich etwas Empörendes, den Charakter einer Zumutung. Unwirsch stellte sie das leere Glas in die Spüle, machte auf dem Absatz kehrt, lief zum Telefon und wählte Bens Nummer.
    »Janek?«, rief eine Stimme am anderen Ende gespannt.
    »Nein, ich bin es«, hörte er seine Großmutter Johanna nach einer kurzen Pause sagen.
    »Ach, du«, erwiderte Ben und sah zum Flurfenster, gegen dessen Scheiben der Sturm drückte.
    Während er ihren nächsten Satz erwartete, stellte er sich ihr im Alter schmaler gewordenes, freundliches Vogelgesicht vor, in dem die schöne, auffallend große Nase alles andere dominierte: die braungrünen und neuerdings etwas in die Höhlen gesunkenen Augen; ihre an die wellig gewordene Haut eines Apfels erinnernden Wangen, die inzwischen mit einer Fülle kleinerer rostbrauner Altersflecken gesprenkelt waren. Und nicht zuletzt ihre dünnen Lippen, deren einstiges Zartrosa, wie Ben bei ihrer letzten Begegnung überrascht festgestellt hatte, einem fahlen Samtbraun gewichen war.
    »Wie geht es dir, Junge?«, sagte sie, und Ben hörte, welche Anstrengung es sie kostete, gelassen zu wirken.
    Benjamin Jansen war vierunddreißig Jahre alt, hatte die schlaksige Statur eines Marathonläufers und einen Blick, in dem etwas Unscharfes lag. Seine Hände waren nicht sehr groß,seine Arme nicht sehr muskulös, und sein halblanges, aschblondes Haar trug er links gescheitelt. Auf Fremde konnte Ben unsicher, verschlagen und manchmal sogar arrogant wirken. Die wenigsten, diese Erfahrung hatte er mehr als einmal machen müssen, vermuteten in ihm einen Sportjournalisten, jemanden, der aus einer Welt berichtete, in der (anders als im wahren Leben) Sieger und Verlierer noch deutlich unterscheidbar waren und wie Gladiatoren gefeiert wurden. Er, der selbst einmal davon geträumt hatte, Fußballspieler zu werden, hatte den Beruf des Sportreporters gewählt, um jenen Lichtgestalten nah sein zu können.
    »Versteh das nicht falsch, Johanna, aber ich hatte gehofft, es wäre Janek«, antwortete er, ohne auf ihre Frage einzugehen. Er sah nach draußen. Die Dunkelheit war bereits so intensiv, dass alle Helligkeit nur noch von den erleuchteten Fenstern und den schwankenden Laternen herkam, die an Schiffslampen erinnerten.
    »Aber deshalb rufe ich dich doch an!«, sagte sie zu seiner Überraschung. »Um zu fragen, ob du was von ihm gehört hast.«
    »Ja, heute Nacht!«, sagte Ben, ohne zu überlegen, verschwieg ihr aber zunächst, dass Janek ihn

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