Die Ängstlichen - Roman
zum Postamt bestellt hatte. Von Spielschulden war die Rede gewesen, von 90 000 Euro, einer für Bens Verhältnisse irrwitzig hohen Summe. Ben hatte vergeblich auf ihn gewartet.
»Heute Nacht?«, sagte Johanna, wobei ihre Stimme auf einmal klarer, deutlicher war, so als sei sie einige Meter auf ihn zugegangen. »Na, Gott sei Dank!«
In Bens Ohren klang ihr erleichtertes Seufzen, als entweiche Luft aus einem zum Bersten gefüllten Ballon.
Irgendwann hatte Johanna darauf bestanden, dass sie sich beim Vornamen nannten. Und wenn er sie seither in Gegenwartanderer so anredete, schien sie dies sichtlich zu genießen. Als komme sie sich dadurch jünger, fortschrittlicher vor, weniger ausgeschlossen aus dem Leben derer, die heute das Sagen hatten und bestimmten, wo es langging.
Ben sah seine Großmutter im Geiste abermals vor sich: ihr metallisch grau schimmerndes Haar, das auf den ersten Blick an ein Geflecht hauchdünner widerspenstiger Silberdrähte erinnerte, und wie sie mit ihren rheumatisch entstellten Fingern den Telefonhörer umklammert hielt.
»Er hat mich angerufen, so gegen drei«, sagte Ben, ohne ihr allerdings weitere Details zu nennen.
»So, gegen drei!«, sagte Johanna schnippisch und schielte ärgerlich hinunter zu ihrem rechten Fuß. Sie hatte den Hausschuh abgestreift, denn im großen Zeh registrierte sie seit einigen Minuten ein beunruhigendes Pochen.
Wegen der Alarmglocken, die in ihrem Hinterkopf schrillten, wäre sie fast nicht in der Lage gewesen, sich auf Bens Antwort zu konzentrieren.
Ben achtete nun peinlich genau darauf, was er sagte, denn er ahnte, das entnahm er ihrer plötzlich stockenden Stimme, dass Johanna alarmiert war. In all den Jahren hatte er gelernt, welche Grade der Erregung von Johanna Besitz ergreifen konnten. Da war die Sirene, deren an- und abschwellendes langgezogenes Geheul das größtmögliche anzunehmende Unheil anzeigte. Oder die harmlosere Version einer schrillenden Türklingel, die für die mittlere Katastrophe stand. Und nicht zuletzt das gedämpfte, aber durchaus zermürbende Sirren, wie es elektronische Zeitschaltuhren von sich geben, das ihr signalisierte, dass es Zeit war, sich aus einer ungemütlich werdenden Diskussion zurückzuziehen.
»Johanna?«, rief er. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja doch!«, antwortete sie sogleich energisch, zog die Stirnkraus und winkelte das Bein etwas an. Besser aber sah sie ihre pochenden Zehen dadurch auch nicht. Wie sie es auch drehte und wendete: Das Alter war ihr ein ständiges Würgen im Hals! Wo war nur die Zehnjährige geblieben, die, vor der Tür eines elsässischen Hauses auf dem warmen Steinboden sitzend, mit Klickern in der Sonne spielte? Wo die einst erwartungsvoll dem Leben entgegenblickende Schulabgängerin? Und wo die junge, bereits skeptischer in die Zukunft sehende Mutter mit dem dichten kastanienbraunen Haar?
»Also Ben, weiter!«, wiederholte sie. »Was hat er gesagt?«
Ben wollte unter allen Umständen vermeiden, dass Johanna in Panik geriet. Ein falsches Wort, das wusste er, und ihre Welt stand in Flammen.
Er sagte: »Ach, nichts weiter. Er bat mich, zum Postamt zu kommen, und das hab ich getan. Doch als ich ankam, war er nicht da. Das war’s!«
Er hoffte, sie damit beschwichtigt zu haben. Kein Wort über die Männer, von denen Janek sich offenbar bedroht fühlte, kein Wort über seine Schulden.
Doch Johanna blieb misstrauisch und sagte: »Er ist seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen. Irgendwas stimmt da nicht. Das denkst du auch, nicht wahr!?«
»Ach, Unsinn«, antwortete Ben. Er schlug einen noch milderen Ton an. »Du kennst ihn doch. Keine Rücksicht auf andere. Heute Abend ist er wieder da, verlass dich drauf. Allerspätestens morgen.«
Ben hörte sich angespannt dabei zu, wie er log. Denn wenn er ehrlich war, machte er sich ebenfalls Sorgen um Janek. Wie es aussah, steckte der in ernsten Schwierigkeiten. Er versuchte, das Thema zu wechseln, indem er auf den Sturm zu sprechen kam. Doch Johanna ging nicht darauf ein, sagte: »Was können wir tun?«
»Wenn du willst, sehe ich mich, sobald es aufgehört hat zu stürmen, mal in seiner Werkstatt um«, sagte Ben und blickte auf seine Armbanduhr.
»O ja, bitte, Ben!«, erwiderte Johanna und atmete kräftig aus, so dass auf Bens Seite ein kurzes trockenes Brausen ertönte. »Und was können wir sonst noch tun?«
»Nichts, fürchte ich! Leider«, antwortete er. »Bloß abwarten.«
Er trat ans Fenster, nippte an dem bereits erkalteten Tee, den er
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