Die Ahnen von Avalon
tun«, sagte die Prinzessin. »Aber ich wollte mit Euch sprechen, weil wir gewissermaßen beide vor der gleichen Aufgabe stehen.« Sie führte ihn auf eine lange Galerie, von der man auf einen hübschen, nach oben hin offenen Innenhof blickte.
»Ich danke Euch«, sagte er erleichtert. »Ich finde unterirdische Räume trotz der vielen Licht-und Belüftungsschächte immer ein wenig bedrückend.«
»Diese Bauweise«, bemerkte die Prinzessin leise, »schützte uns im schönen Alkonath vor der Glut der Sommersonne. Hier wird sie uns helfen, Wärme zu sparen.«
»Ihr habt sicherlich Recht«, gab Micail zu. Die gleichen blanken Bronzeröhren, durch die das spärliche Sonnenlicht einfallen konnte, hielten auch die Winde ab, die über dieses kalte, graue Land fegten. »Aber ich bin wohl zu sehr ein Kind der Sonne«, zog er sich geschickt aus der Affäre. »Wie soll ich da an einem Ort gedeihen, wo die Schatten mehr von ihr versprechen, als man tatsächlich zu sehen bekommt?«
»Das mag wohl sein«, lächelte Chaithala. »Aber wenn Ihr im Hafenviertel aus den Fenstern schaut, werdet Ihr auch nicht mehr Sonnenschein zu sehen bekommen als hier. Mein Gemahl sagt, Ihr wolltet lieber in Domazos Gasthof wohnen, als Euch hier bei uns einzuquartieren.
Die Entscheidung liegt natürlich bei Euch, aber ich hoffe doch, dass Ihr uns oft besuchen werdet. Ich brauche nämlich Euren Rat.«
»Das sagtet Ihr bereits.« Micail heuchelte Aufmerksamkeit.
»Es geht um die Ausbildung meiner Kinder. Mein Gemahl hat so viele Verpflichtungen - und überlässt es allein mir, mich um ihre Erziehung zu kümmern.«
»Vergebt mir, aber von Kindern verstehe ich nun gar nichts«, stieß Micail hervor. Die Erinnerung an die Säuglinge, die Tiriki verloren hatte, traf ihn wie ein Stich ins Herz. Meine Familie ist tot, dachte er. Was habe ich den Lebenden noch zu geben?
»Ihr habt mich missverstanden. Wir haben bereits einen Lehrer, einen klugen und geduldigen Mann, mit dem wir vollauf zufrieden sind. Mit Euch wollte ich nur über die Inhalte ihrer Ausbildung sprechen. Ihr unterrichtet doch die Priesterschüler, nicht wahr?«
»Ich…« Er hielt inne und sah sie scharf an. »Das ist zwar an sich richtig, aber bisher war es mir kaum vergönnt, meinen Verpflichtungen nachzukommen. Das Haus der Zwölf wurde erst im vergangenen Jahr nach Ahtarrath verlegt. Und nun haben wir lediglich vier von den Zwölfen bei uns…« Die Trauer um die vielen Toten übermannte ihn und schnürte ihm die Kehle zu.
»Gewiss«, strahlte Chaithala, »aber diese vier wurden immerhin gerettet. Glaubt Ihr, sie könnten uns gelegentlich besuchen? Priester haben wir wahrhaftig genug, die Götter wissen es!« Sie deutete lächelnd nach hinten zum großen Saal. »Aber die meisten sind so mit ihrer Heiligkeit beschäftigt, dass sie nicht mehr wissen, wie man mit Kindern spricht. Wenn meine drei keine anderen Vorbilder bekommen, wachsen sie womöglich heran, ohne den wahren Sinn unserer Religion zu erfassen.«
»Ich kann sie gern fragen, ob sie dazu bereit sind«, sagte Micail langsam. »Von mir werden sie bisher ohnehin nicht mit Arbeit überhäuft.« Seine Gedanken überschlugen sich, Schuldgefühle kämpften mit wilden Vermutungen. Die Prinzessin hatte behauptet, vor der gleichen Aufgabe zu stehen wie er, und er musste ihr Recht geben. Wie sollten die Schüler das Wissen von Atlantis bewahren, wenn er es ihnen nicht vermittelte? Doch ohne Tiriki konnte er sie nichts anderes lehren, als an der eigenen Unfähigkeit zu verzweifeln.
»Mehr verlange ich nicht, edler Prinz.« Chaithala schenkte ihm abermals ihr strahlendes Lächeln, dann legte sie ihm die Hand auf den Arm und zog ihn sanft in die wogende Menge zurück, um ihm die Priesterin Timul vorzustellen. Sie hatte einst unter der Hohen Priesterin des Ni-Terat-Tempels in Alkonath gedient und stand nun dem Orden der Blauen in Belsairath vor. Wie die Prinzessin war sie vor etwas mehr als einem Jahr in das neue Land gekommen und hatte sich offenbar gut eingelebt.
Tiriki könnte sie gefallen, dachte Micail traurig.
Irgendwie gelang es ihm, die Augen offen zu halten und alle Anwesenden zu begrüßen. Einige stammten von Ahtarrath, darunter sein älterer Vetter Naranchada, der Vierte Heilige Hüter. Auch der alte Metanor war da, ehemals Fünfter Hüter im Tempel, und natürlich Ardral, dessen Amt als Siebenter Heiliger Hüter in keinem Verhältnis zu dem hohen Ansehen stand, das er allenthalben genoss.
Als Spross eines Königshauses
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