Die Ahnen von Avalon
war Micail von klein auf mit solchen Festlichkeiten vertraut und wusste, wie er sich zu verhalten hatte. Eigentlich sollte er von Gruppe zu Gruppe gehen und Beziehungen anknüpfen, wobei er den wahrhaft Mächtigen mehr Aufmerksamkeit zu widmen hätte als den lediglich Einflussreichen, aber er konnte sich nicht dazu durchringen. Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, wie sehr er sich bei solchen Gelegenheiten stets auf Tiriki verlassen hatte. Sie waren ein gutes Gespann gewesen und hatten sich gegenseitig unterstützt.
Ein Diener mit einem Tablett kam vorbei, Ila'anaat-Likör in Keramikbechern, so fein wie Muschelschalen. Micail nahm sich gleich zwei und leerte den ersten auf einen Zug. Das Zeug war herbsüß und brannte wie Feuer im Magen.
»Lasst es Euch schmecken, solange Ihr noch könnt«, bemerkte eine Stimme wehmütig. »Die Ila-Beere wächst nicht in diesen Breiten.«
Micail waren die Tränen in die Augen geschossen. Undeutlich erkannte er ein braun gebranntes Gesicht, einen Schnurrbart: Bennurajos, ein kräftig gebauter Priester in den mittleren Jahren. Er stammte von Cosarrath und hatte lange im Dienst des Tempels von Ahtarrath gestanden. Micail hatte ihn als guten Sänger in Erinnerung und wusste, dass er viel von Pflanzen verstand.
Er hob den zweiten Becher an die Lippen. Diesmal nahm er nur einen kleinen Schluck und wartete, bis er das Feuer bis in die Finger-und Zehenspitzen spürte. »Schade. Aber Ihr müsst es ja wissen.«
Bennurajos wiegte bedächtig den Kopf. »Es gibt einige viel versprechende Kletterpflanzen«, sagte er, »aber was sich damit machen lässt, wird sich erst herausstellen, wenn die Früchte reif sind.«
»Ich weiß nicht einmal genau, welche Jahreszeit wir haben«, murmelte Micail.
»Ja, das ist eine spannende Frage. Zu Hause schien ständig die Sonne, und wir beteten um Regen. Hier träumen die Menschen vermutlich vom Sonnenschein, denn Regen bekommen sie, die Götter wissen es, wahrlich genug!«
Micail nickte. Bisher hatte es jeden Tag geregnet. »Wenn das der Frühling ist, dann graut mir vor dem Winter.« Er blinzelte. Ihm war plötzlich schwindlig, er schüttelte heftig den Kopf, aber das sonderbare Gefühl wollte nicht weichen.
Ist es die Hitze hier im Raum, der Lärm, die vielen Gerüche, der Likör…?
Bennurajos merkte, dass Micail das Interesse an dem Gespräch verloren hatte, und trat zurück. Micail wollte ein paar freundliche Worte sagen - er hatte Bennurajos immer gern gehabt -, aber er spürte, wie ihm unaufhaltsam die Kontrolle entglitt. Wieder schüttelte den Kopf. Die Tränen brannten ihm in den Augen.
»Nehmt es ihm nicht übel.« Jiritaren tauchte wie aus dem Nichts an seiner Seite auf. »Prinz Micail lag während der ganzen Reise mit einem schweren Fieber darnieder und hat sich noch immer nicht ganz erholt.«
»Wo warst du? Hast du mich etwa beobachtet?«, fragte Micail vorwurfsvoll.
»Komm mit mir«, sagte Jiri leise. »Hier drin sind zu viele Menschen. Im Garten ist es kühler. Lass uns hinausgehen.«
Sie drängten sich an einer Gruppe alkonischer Priester vorbei. Eigentlich müsste er sie kennen - Namen tauchten auf: der Erste Hüter Haladris, ein stolzer, ziemlich eingebildeter Mensch, und der berühmte Sänger Ocathrel, der das Amt des Fünften Hüters innehatte. Auch zwei Priesterinnen aus dem Tempel von Tarisseda erkannte er - Mahadalku und Stathalkha, die Seherin. Viele Priesterinnen und Priester der unteren Ränge schlenderten von einer Gruppe zur anderen, nicht wenige kamen ihm bekannt vor, aber das lag vermutlich daran, dass sie so unverkennbar wie Priester des Lichtes aussahen. Jedenfalls waren sie ihm herzlich gleichgültig. Er konnte keiner Gesellschaft, und wäre sie noch so groß, irgendetwas abgewinnen, solange der eine Mensch nicht dabei war, nach dem er sich verzehrte.
7. Kapitel
»Woher soll ich wissen, ob es mir hier gefällt?« Damisa schlug wütend nach einer Stechmücke, die auf ihrem Arm saß. »Frag mich morgen noch einmal!«
»Denkst du dann anders darüber?« Iriels Stimme klang dumpf. Sie hatte sich mehrere Schleier über Gesicht und Hals gezogen, um sich vor Stechmücken und anderen Insekten zu schützen, von denen es an diesem Fluss nur so wimmelte. Die Ufer waren mit Schilf bewachsen, und die Zweige der Weiden hingen tief über dem braunen Wasser. Die Purpurschlange folgte einer schmalen Fahrrinne flussaufwärts. Gestern hatten sie die Sonne gesehen und einen Hauch von Wärme gespürt. Doch heute war der Himmel so
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