Die Akte Nr. 113
erschien nach wenigen
Minuten wieder, in der Hand hielt er einen Brief und ein
Päckchen, das Wertpapiere enthielt.
»Rasch Courtier,« sagte er zu einem der
Beamten, »fahren Sie mit dem Herrn Grafen zu Rothschild, dort
geben Sie diesen Brief und die Wertpapiere ab, Sie werden
dafür 300 000 Frank erhalten, die Sie dem Herrn Grafen gegen
Bestätigung ausfolgen.«
Der Graf von Clameran schien etwas verlegen und versuchte sein
unartiges Benehmen gutzumachen.
»Seien Sie versichert, Herr Fauvel,« sagte
er, »daß es mir fern lag, Sie beleidigen zu wollen;
wir stehen ja schon seit Jahren in Verbindung und ...«
»Bitte, es bedarf keiner Entschuldigung,«
entgegnete der Bankier kalt. »Bei Geschäften gelten
keinerlei Beziehungen, weder Bekanntschaft noch Freundschaft. Sie
fordern Ihr Geld und meine Pflicht ist es, Ihnen dasselbe auszuzahlen,
begleiten Sie meinen Beamten und Sie werden es sofort
erhalten.«
Dann drehte er sich um und sagte zu den Leuten, die noch immer
neugierig herumstanden: »Nun, meine Herren, ich
dächte, es wäre Zeit, daß Sie zu Ihrer
Arbeit zurückkehren.«
Im Nu war der Kreis zerstoben und das Bureau leer, nur die
Beamten, die in demselben zu arbeiten hatten, waren geblieben, sie
saßen an ihren Schreibtischen und schrieben, daß die
Federn flogen.
Fauvel schritt fieberhaft erregt auf und ab, indes Bertomy
bleichen Antlitzes an der Wand lehnte und gedankenlos vor sich
hinstarrte.
Endlich, nach langer Pause blieb der Bankier vor dem Kassierer
stehen und sagte: »Wir müssen trachten, Licht in die
Sache zu bringen, kommen Sie ins Kassenzimmer.«
Ohne ein Wort der Erwiderung, fast mechanisch gehorchte
Bertomy und folgte dem Chef ins Kassenzimmer.
Hier verriet nicht das geringste Anzeichen, daß
fremde Einbrecher eingedrungen waren. Kein Blatt Papier war von seiner
Stelle gerückt, alles lag in gewohnter Ordnung. Im offenen
Geldschrank – Prosper hatte im ersten Schrecken über
seine Entdeckung vergessen, ihn wieder zu schließen
– gewahrte man in einem oberen Fach eine Anzahl Geldrollen,
die die Diebe übersehen oder verschmäht haben mochten.
Fauvel hatte seine Fassung wieder erlangt, und sein Gesicht
verriet nichts von der gehabten Aufregung.
Er schloß die Tür sorgfältig ab,
dann ohne die Kasse oder irgend etwas in Augenschein zu nehmen, setzte
er sich, wies seinem Kassierer ebenfalls einen Stuhl an und sprach:
»Jetzt sind wir allein, Prosper – haben Sie mir
nichts anzuvertrauen?«
Der Kassierer schrak aus seiner Geistesabwesenheit auf.
»Nichts, Herr Fauvel, was ich Ihnen nicht schon
gesagt hätte.«
»Wirklich, Prosper, nichts? Sie werden doch diese
sinnlose, lächerliche Geschichte, an die niemand glaubt, nicht
weiter aufrecht erhalten wollen? Das wäre Wahnsinn. Haben Sie
Vertrauen zu mir, Prosper, ich bin nicht nur Ihr Vorgesetzter, ich bin
auch Ihr bester Freund. Haben Sie vergessen, daß Sie seit
fünfzehn Jahren bei mir sind und ich Ihnen in dieser Zeit nur
stets väterliches Wohlwollen bewiesen? Und ich, Prosper, ich
will nur daran denken, daß ich diese ganze lange Zeit nur
Ursache hatte, mit Ihnen zufrieden zu sein.«
Noch niemals hatte Bertomy seinen Chef mit so weichem
väterlichen Ton sprechen hören; in seinem Gesichte
malte sich höchstes Erstaunen.
»Sagen Sie selbst, habe ich Sie nicht wie ein Vater
behandelt, stand Ihnen nicht mein Haus offen? Die Meinen nahmen Sie wie
einen lieben Anverwandten auf. Sie haben die ganze Zeit mit meinen
Söhnen und meiner Nichte Magda wie mit Geschwistern verkehrt.
Aber plötzlich gefiel Ihnen dieses häusliche Leben
nicht mehr. Seit einem Jahre ungefähr meiden Sie unser Haus
und seitdem ...«
Die Erinnerungen, die durch des Bankiers Worte in Bertomy
wachgerufen worden, rührten und
überwältigten ihn derart, daß er sich der
Tränen nicht erwehren konnte, er schlug die Hände
vors Gesicht und weinte.
»Einem Vater kann man alles anvertrauen,«
nahm Fauvel, ebenfalls von Rührung ergriffen, wieder das Wort,
»und ein Vater, Prosper, kann verzeihen, vergessen sogar. Ich weiß sehr wohl, daß ein junger Mann in
einer Großstadt wie Paris Versuchungen aller Art ausgesetzt
ist, er kann straucheln – – und es gibt Stunden der
Verirrung, wo man etwas begeht, was man später selbst nicht
begreifen kann ... Sprechen Sie, Prosper, gestehen Sie mir
alles.«
»Aber was um Gottes willen soll ich Ihnen
sagen?«
»Die Wahrheit! Man kann fehlen, Prosper, aber
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