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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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kennt das Stichwort.«
    Aus diesen beiden Aussagen ward es dem Kommissar sofort klar,
daß die beiden Männer einander gegenseitig anklagten,
und daß in der Tat nur einer von ihnen der Schuldige sein
konnte. Sein Gesicht verriet seine Gedanken nicht, aber er betrachtete
abwechselnd den Chef und den Kassierer mit der
größten Aufmerksamkeit, als wollte er aus ihrer
Haltung Beweise für die Schuld des einen oder des anderen
herauslesen.
    Prosper war auf seinen Stuhl niedergesunken, seine Arme hingen
schlaff herab, er war totenblaß und er sah
äußerst niedergeschlagen aus. Der Bankier hingegen
war stehengeblieben. Sein Gesicht war zornesrot und seine Augen
funkelten. Er sprach mit größter Heftigkeit.
    »Es handelt sich um keine Kleinigkeit, 350 000 Frank
sind spurlos verschwunden. Der Diebstahl hätte für
mich unabsehbare Folgen haben, meinen Kredit schädigen
können.«
    »Das begreife ich,« versetzte der Kommissar,
»an einem Verfallstage zum Beispiel ...«
    »Jawohl, ich hatte gerade heute eine
größere Zahlung.«
    »In der Tat, ah?«
    In dem Kommissar war ein Verdacht aufgestiegen und die Art,
wie er diese Worte betonte, ließen Fauvel seine Gedanken
erraten, er zuckte zusammen, entgegnete aber schnell: »Ich bin
trotzdem meinen Verpflichtungen nachgekommen. – Aber ich
muß noch erwähnen, daß sich die 350 000
Frank nicht in der Kasse befunden hätten, wenn meine Befehle
befolgt worden wären.«
    »Wieso?«
    »Ich behalte nie gern größere
Summen über Nacht im Hause. Mein Kassierer war angewiesen,
stets bis zur letzten Stunde zu warten, ehe er das Nötige von
der Bank von Frankreich, wo ich meine Gelder liegen habe, holen
ließ.«
    »Verhält es sich so?« wandte sich
der Polizeikommissar an Bertomy.
    »Ja, Herr Kommissar,« versetzte dieser.
    »Kann der Dieb nicht von außen gekommen
sein?« fragte der Kommissar aufs neue.
    Fauvel zögerte mit der Antwort.
    »Kaum,« entgegnete er endlich.
    »Und ich bin sicher, daß er nicht von
außen kam,« sagte Prosper bestimmten Tones.
    »Trotzdem dürfen wir nichts
unberücksichtigt lassen,« sagte der Kommissar, und
sich an seinen unscheinbaren Begleiter wendend, setzte er hinzu:
»Sehen Sie doch nach, Fanferlot. ob Sie nicht irgendwelche
Spuren finden, die den Herren entgangen sind.«
    Fanferlot war Beamter der Sicherheitspolizei und wurde von
seinen Kollegen wegen seiner ungemeinen Behendigkeit »das
Eichhörnchen« genannt. Er war von einem ungeheuern
Ehrgeiz beseelt und brannte darauf, sich auszuzeichnen; seit Jahren
suchte er nach einem außerordentlichen Fall, der ihn ans
ersehnte Ziel führen könnte – bis zur
Stunde aber war es ihm noch nicht gelungen.
    Noch ehe der Kommissar ihm den Auftrag gegeben, hatte er schon
überall herumgespürt, Wände und
Türen untersucht, sogar in der Asche im Kamin
herumgestöbert.
    »Ein Fremder dürfte hier schwerlich
eingedrungen sein,« sagte er endlich. »Wird die
Tür abends geschlossen?«
    »Ja, gewiß.«
    »Und wer hat den Schlüssel?«
    »Ich übergebe ihn jeden Abend dem
Bureaudiener,« entgegnete Bertomy.
    Und Fauvel fügte hinzu: »Dieser Diener
schläft im Vorzimmer auf einem Feldbette.«
    »Ist er hier?« fragte der Kommissar.
    »Ja,« antwortete der Bankier,
öffnete die Tür und rief: »Anselm.«
    Der Diener erschien; er war schon zehn Jahre im Hause und
genoß das volle Vertrauen seines Herrn; er wußte,
daß kein Verdacht gegen ihn vorliegen konnte und doch
entsetzte ihn. der Gedanke an den Diebstahl so, daß er wie
Espenlaub bebte.
    »Haben Sie heute nacht im Nebenzimmer
geschlafen?« fragte der Kommissar.
    »Ja, Herr Kommissar, wie
gewöhnlich.«
    »Um wie viel Uhr sind Sie schlafen gegangen?«
    »Es mochte halb elf sein, ich habe den Abend mit dem
Kammerdiener im Kaffeehause nebenan zugebracht.«
    »Haben Sie nachts kein Geräusch
gehört?«
    »Nicht das geringste, ich habe einen sehr leichten
Schlaf und erwache sofort, wenn zum Beispiel der Herr in das
Kassenzimmer kommt.«
    »Pflegt der Herr öfters nachts in das
Kassenzimmer zu kommen?«
    »Nein, Herr Kommissar, im Gegenteil, sehr
selten.«
    »War er heute nacht da?«
    »Nein, bestimmt nicht, ich konnte lange nicht
einschlafen, weil der schwarze Kaffee, den ich getrunken, sehr stark
war, ich müßte jedes Geräusch
gehört haben.«
    »Es ist gut,« sagte der Polizeikommissar,
»Sie können gehen.«
    Fanferlot hatte unterdessen seine Nachforschungen fortgesetzt
und die Türe, durch

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