Die Akte Nr. 113
1. Kapitel
Seit drei Tagen sprach ganz Paris von nichts anderem als von
dem Diebstahle, der in dem Bankhause André Fauvel
verübt worden war. Dem Täter, der ungemein gewandt
und schlau zu Werke gegangen sein mußte und den die Polizei
bis zur Stunde nicht zu entdecken vermochte, war es gelungen, aus der
versperrten Kasse 350 000 Frank zu entwenden. Die Kasse selbst erwies
sich als völlig unversehrt und es war unerklärlich,
auf welche Weise das Geld dem einbruch- und feuerfesten Schranke
entnommen worden. Der Kassenraum war Fremden überhaupt nicht
zugänglich und es waren außerdem solche
Sicherheitsmaßnahmen getroffen, daß nur ein
Eingeweihter die Kasse öffnen konnte.
Das durch einen vergitterten Schalter in zwei Hälften
geteilte und mit dem Arbeitskabinett des Chefs durch eine geheime
Wendeltreppe verbundene Kassenzimmer, war wie ein Kriegsschiff
gepanzert. Die Kasse selbst, ein mächtiger, drei Meter hoher
Eisenschrank, war in eine tiefe Nische eingelassen und mit Klammern
befestigt.
Das Kassenschloß war ungemein kunstvoll gearbeitet;
es wäre unmöglich gewesen, es mit dem
Schlüssel ohne weiteres zu öffnen, man mußte
das Stichwort kennen, auf das es gestellt war. Das Geheimnis bestand
darin, daß sich der Schlüssel nur dann in das
Schloß, an welchem bewegliche Stahlbuchstaben angebracht
waren, einführen ließ, wenn die Buchstaben in
derselben Reihenfolge wie beim Absperren standen.
Das Stichwort, das zum Überfluß noch von
Zeit zu Zeit geändert wurde, war nur dem Chef des Hauses und
dem Kassierer bekannt.
Die weitläufigen und geräumigen Bureaus des
Bankhauses Fauvel umfaßten das ganze Erdgeschoß des
palastartigen Gebäudes, dessen Besitzer der Bankier selber war.
Das letzte Zimmer in der langen Flucht der Bureaus war der
Kassenraum, welcher durch eine gußeiserne Wendeltreppe mit den
Arbeitszimmern des Chefs in Verbindung stand.
Am Morgen des Tages an welchem der Diebstahl entdeckt wurde,
erschien in den Bureaus ein elegant gekleideter, hochmütig
aussehender Herr, mit einem Trauerflor am Hute und begehrte den
Kassierer zu sprechen.
Als man ihm bedeutete, daß der Kassierer noch nicht
anwesend sei und die Kasse erst um zehn Uhr geöffnet werde,
wurde er sichtlich ärgerlich.
»Ich bin der Marquis Louis von Clameran,
Hüttenbesitzer in Oloran und habe Herrn Fauvel von meinem
Kommen verständigt,« sagte er hochfahrenden Tones.
»Das Geld, das ich zu beheben wünsche, ist hier in
der Bank von meinem Bruder, dessen Erbe ich bin, erlegt worden und ich
erwartete, die 300 000 Frank sofort zu meiner Verfügung zu
finden.«
Die Beamten zuckten die Achsel.
»Der Kassierer ist noch nicht hier,«
entgegneten sie, »wir können nichts machen.«
»Dann wünsche ich mit dem Chef zu
sprechen,« sagte der Fremde, doch als er vernahm, daß
auch dieser noch nicht anwesend sei, bemerkte er, daß er
später wiederkommen wolle und entfernte sich, wie er gekommen,
ohne Gruß.
»Nun, höflich ist der adelige Herr gerade
nicht,« bemerkte ein junger Beamter, namens Cavaillon, der
müßig am Fenster stand, »und Pech hat er
auch, denn eben sehe ich unseren Herrn Kassierer über die
Straße kommen.«
In der Tat trat Prosper Bertomy, der Kassierer des Hauses
Fauvel, einen Augenblick später ein. Er war ein
schöner, etwa dreißigjähriger
hochgewachsener Mann mit blondem Haupt- und Barthaar und
fröhlichen blauen Augen. Er wäre sehr sympathisch
gewesen, wenn er sich nicht bemüht hätte,
äußerst steif und kalt zu erscheinen, er hielt das
für englisch, wie er sich denn auch nach streng englischer
Mode kleidete und stets den »Gentleman« markierte.
Dies machte ihn in den Augen vernünftiger Leute ein wenig
lächerlich, während namentlich die jüngeren
Kollegen sich bestrebten, ihm nachzuahmen.
»Sind Sie endlich da,« rief ihm Cavaillon
entgegen, »man hat schon nach Ihnen gefragt.«
»Ein Hüttenbesitzer, nicht? Der wird schon
wiederkommen, übrigens liegt sein Geld bereit.«
Während Prosper sprach, hatte er die Tür zu
seinem Bureau geöffnet und sich von da ins Kassenzimmer
begeben.
»Den bringt auch nichts aus der Fassung,«
bemerkte einer der jungen Beamten. »Und jeden Tag kommt er zu
spät, der Chef kann sagen, was er will, Herr Bertomy
kümmert sich wenig darum! Natürlich kann er morgens
nicht rechtzeitig am Platze sein, wenn er die ganzen Nächte
durchschwärmt. Habt ihr bemerkt, wie elend er heute wieder
aussieht?
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