Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
und das gespensterhaft leere Löwenbräu , in dem noch die Bierdünste des Vorabends in der Luft standen, überkam ihn wieder dieses Gefühl, am falschen Ort zu sein.
Der Schupo öffnete eine große Tür, und plötzlich standen sie in der imposanten Mittelhalle. Von hier gelangte man über eine Vielzahl von Treppen, Galerien, Aufzügen und Türen zu all den unterschiedlichen Lokalen und Attraktionen, die Haus Vaterland auf vier Etagen für seine Gäste bereithielt. Rath hatte die Halle als einen Ort geschäftigen Rummels in Erinnerung, überall Menschen, auf dem Weg von einem Restaurant ins nächste, jetzt aber wirkte sie, gerade wegen ihrer Größe, gespenstisch leer. Nur rund zwei Dutzend Menschen warteten auf den Treppenstufen, ein paar in Küchenschürzen, andere in Kellnerkleidung oder Straßenanzügen, ein paar im Blaumann. Vier, fünf Schupos standen in der Gegend herum wie Hunde, die eine Schafherde bewachten. Und wie der Schäfer stand Kriminalassistent Andreas Lange mit zwei Uniformierten an der Treppe, auf der sich die Angestellten niedergelassen hatten. Als er Rath entdeckte, ließ er die Schupos stehen.
»Morgen, Herr Kommissar. Schön, dass Sie hier sind.«
»Morgen, Lange. Was für ein Menschenauflauf!«
»Alles Zeugen. Hat Kollege Gräf zusammentrommeln lassen.«
»Und die haben alle was gesehen?«
Lange zuckte die Achseln. »Wissen wir noch nicht. Das sind alle Mitarbeiter, die zum mutmaßlichen Todeszeitpunkt schon hier im Haus waren. Oder noch.«
»Alle?«
Rath schaute sich die Wartenden an. Wenn Gräf wirklich vorhatte, die alle zu befragen, dann säßen sie noch Stunden hier. »Da können wir ja froh sein, dass die Sache nicht gestern Abend passiert ist, als hier Hochbetrieb herrschte. Dann säßen jetzt ein paar Tausend Leute mehr hier auf den Treppen.«
Lange schwieg. Rath musste an Charly denken, die in der Carmerstraße wartete, und bekam immer schlechtere Laune. »Schon irgendwelche Erkenntnisse?«, fragte er.
»Wie man’s nimmt. Wir haben einen Toten, wir haben eine ungewöhnliche Todesart. Und sonst nicht den blassesten Schimmer, was dem armen Kerl passiert ist.«
»Ertrunken. Glauben Sie das wirklich?«
Lange zuckte die Achseln. »Wenn der Experte das sagt.«
»Ist der Tote denn schon identifiziert?«
Lange zog ein Dokument aus der Tasche. »Hat die Spurensicherung in seinem Kittel gefunden.«
Herbert Lamkau , las Rath. Ein Führerschein, ausgestellt im Oktober 1919 im Landkreis Oletzko. Der Mann auf dem Foto blitzte aus den Augen, als habe er den Passfotografen mit seinem Blick erstechen wollen. Wahrscheinlich von Kaiser Wilhelm abgeguckt.
»Lamkau. Das steht auch draußen auf dem Lieferwagen, oder?«
Lange nickte. »Ist wohl der Inhaber.«
»Komisch, dass der Chef persönlich die Lieferung ausfährt …«
»Wer weiß, wie groß die Firma ist. Vielleicht ist er der einzige Mitarbeiter.«
»Eine Klitsche soll einen Riesenbetrieb wie das Haus Vaterland beliefern? Kann ich mir nicht vorstellen. Versuchen Sie mal herauszufinden, wie groß die Firma ist und ob Lamkau immer selbst rausgefahren ist.«
»Wird gemacht.«
»Und sagen Sie den Leuten vom ED, sie sollen sich in jedem Fall auch mal die Technik des Aufzugs anschauen. Nur, um auf Nummer sicher zu gehen.«
Lange nickte. »Wir haben schon mit dem Haustechniker gesprochen. Und mit dem Koch, der buchstäblich über die Leiche gestolpert ist …«
»Aha.«
»Der Mann hat den Aufzug hochgeholt in den vierten Stock und wäre beinahe in die Kabine gefallen, als er die Tür geöffnet hat. Hat erst im letzten Moment gesehen, dass die viel zu tief im Schacht hing, und sich gerade noch festhalten können. Tja, und dann hat er die Leiche entdeckt.«
»Und Alarm geschlagen.«
»Ja. Hat den Wachdienst informiert, und der wiederum hat uns alarmiert. Der Haustechniker hat sich den Aufzug angesehen und gesagt, damit sei eigentlich alles in Ordnung.«
»In Ordnung sah mir das nicht aus.«
Lange zuckte die Achseln. »Der Techniker geht davon aus, dass jemand irgendwo zwischen zwei Stockwerken den Notausschalter betätigt und dann nicht Bescheid gesagt hat. Dann kann es wohl vorkommen, dass die Kabine nicht mehr richtig justiert ist und nicht exakt auf Bodenniveau hält.«
»Mmm-ha …« Rath sah ein undeutliches, verschwommenes Bild durch seine Gedanken flimmern, doch bevor er Einzelheiten erkennen konnte, hatte es sich schon wieder aufgelöst. »Demnach müsste Lamkau den Notausknopf gedrückt haben, bevor er gestorben
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