Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
nahm ihre Sachen und verschwand.
»Verdammt, Gereon! Erst telefoniere ich stundenlang hinter dir her, dann erscheinst du endlich am Tatort und hast nichts Besseres zu tun, als eine Zeugenvernehmung abzubrechen, wo sie gerade in Fahrt kommt?«
»Reg dich nicht auf. Ich habe die Vernehmung nicht abgebrochen, nur unterbrochen. Kannst gleich weitermachen, ist doch sehr kooperativ, dieser Wachmann.«
»Was hast du denn Wichtiges mit mir zu besprechen?«
»Erst mal: die ganzen Leute da draußen – willst du die alle hier vernehmen? Und alle persönlich ?«
»Ich wollte einfach schon mal anfangen. Jetzt bist du ja da und kannst entscheiden, was gemacht wird.«
»So ist es. Die abgebrochene Vernehmung kannst du gerne fortsetzen. Aber bevor du das machst, sag den Schupos draußen, sie sollen von allen Mitarbeitern, die in der Halle warten, die Personalien aufnehmen.«
»Ist längst geschehen. Was meinst du, wie lange wir schon hier sind?«
»Umso besser. Sollte jemand dabei sein, der eine Beobachtung gemacht hat, kannst du den meinetwegen auch noch gleich befragen. Ansonsten sollen sich die Leute gefälligst ins Präsidium bemühen. Lange kann derweil kontrollieren, ob der Erkennungsdienst seine Arbeit ordentlich macht, und alles andere erledigen wir nächste Woche im Büro.«
»Und die Angehörigen? Wer informiert die?«
»Das kann doch Lange machen. Als Kommissaranwärter muss er das sowieso irgendwann mal lernen.«
»Da hast du auch wieder recht.« Gräf nickte. »Aber eine Frage habe ich noch …«
»Ja?«
»Was ist deine Aufgabe bei dem Ganzen?«
»Deswegen gebe ich dir doch jetzt schon alle Instruktionen.« Rath versuchte gar nicht erst, reumütig oder zerknirscht zu gucken, das gelang ihm sowieso nie. »Ich muss wieder weg. Wäre dir sehr dankbar, wenn du vorerst weiter den Laden schmeißt.«
»Gereon, ich hab noch nie eine Ermittlung geleitet.«
»Musst du auch nicht. Mach das, was ich dir gesagt habe, und dann mach Feierabend.«
Gräf guckte nicht gerade begeistert.
»Na komm schon! Du hast auch was gut bei mir.«
»Mensch, Gereon, du hast Nerven!«
»Wie Drahtseile! Also, was ist?«
»Du bist der Chef.«
»Gut erkannt.« Rath klopfte dem Kriminalsekretär aufmunternd auf die Schulter. »Na komm, du machst das schon! Vielleicht war das hier alles doch nur ein dämlicher Unfall. Noch keine Anzeichen von Fremdeinwirkung.«
»Ich weiß«, sagte Gräf, »aber mysteriös ist es schon. Karthaus behauptet, der Mann sei ertrunken.«
Rath zuckte die Achseln. »Letzten Endes gibt es für alles eine Erklärung. Vielleicht hat der Doktor sich einfach geirrt.«
Es klopfte, und die Tür öffnete sich, ein Mann in einem hellen Sommeranzug trat in den Raum, als sei er hier zu Hause, schaute sich kurz um und steuerte dann Rath an.
»Herr Kommissar? Draußen sagte man mir, dass ich Sie hier finde. Fleischer mein Name. Ich bin der Direktor.«
Rath schüttelte die dargebotene Hand. »Angenehm.«
»Schön, dass Sie endlich hier sind. Ich hoffe, Sie werden meine Leute nun nicht mehr allzu lange von der Arbeit abhalten. Wir sind mit unseren Arbeiten sehr im Verzug, die Haustechnik ist nicht besetzt, in der Zentralküche sind kaum Leute, und bald kommen die ersten Gäste …«
»Mein Kollege wird Ihnen mitteilen, welche Mitarbeiter Sie wieder an die Arbeit schicken können«, sagte Rath und schob Fleischer mit einer sanften Geste zu Gräf hinüber. »Ich muss mich leider entschuldigen, habe noch einen anderen Fall, um den ich mich kümmern muss …«
Der Direktor schaute irritiert, doch der Kommissar hatte den Hut bereits gelüftet und war durch die Tür, bevor der Mann noch irgendetwas sagen konnte.
Keine Viertelstunde später stieg Rath an der Carmerstraße aus seinem Buick, und das schlechte Gewissen, das ihn beim Verlassen von Haus Vaterland noch gepiesackt hatte, war längst verdrängt worden. Zum ersten Mal, seit er wieder in Charlottenburg wohnte, fühlte sich das wirklich wie Nachhausekommen an; er musste nur daran denken, wer dort auf ihn wartete. Sie würden den Tag miteinander verbringen, das Wochenende miteinander verbringen, das erste Mal seit einer Ewigkeit.
Während er den Wagen abschloss, schaute er sich um in seiner neuen Nachbarschaft. Die Gegend um den Steinplatz war wirklich keine schlechte Adresse, überall gediegene Großbürgerlichkeit, kaum ein Haus, das nicht über einen Dienstboteneingang verfügte. Rath öffnete die schwere Haustür und trat ein in seine neue Umgebung aus hellem
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