Die Albertis: Roman (German Edition)
Wolfs Reich ein unsichtbares Schild hing: Betreten und anfassen verboten.
Im Badezimmer hielt er dieselbe Ordnung. Rasierer, Schaum, Deodorant, Zahncreme, Rasierwasser: alles sortiert wie für eine Ausstellung. Er hasste Dreck, Staub, Fusseln. Seine Augen schienen Lupen zu sein, seine Ader für Sauberkeit war weiblich, sein Spürsinn für Flecken detektivisch. «Du hast da was!» Dieser Satz von ihm, verbunden mit einem Fingerzeig auf ihre Blusen, Pullover, Röcke oder Hosen brachten Anne auf die Palme. «Gib her, ich mach dir das weg» oder «So kannst du nicht los!» waren Standardsätze und Befehle gleichermaßen, die zeitraubendes Umziehen und Fleckenentfernung zur Folge hatten, und meist eine handfeste Ehekrise. «Unser Fleckenpapst!», pflegte Anne dann resigniert zu sagen und sich jedes Mal aufs Neue zu wundern, wie er mit Essig und Seifenlauge, Sprays, Pulver, Schaum und stinkenden Elixieren umgehen konnte. Es war ein nie enden wollendes Thema, besonders bei den Kindern. Im Auto durften sie weder essen noch naschen noch trinken. Vor der Wohnungstür mussten sie ihre Schuhe ausziehen. Händewaschen vor den Mahlzeiten, Händewaschen nach den Mahlzeiten, Maßregeln während der Mahlzeiten. Trink langsam. Pass auf, während du eingießt. Iss langsam, Sau nicht rum. Guck, wo du deine Gabel hinlegst. Du hast gekleckert. Ihre Mutter hätte nicht schlimmer sein können.
Manchmal erwischte sich Anne bei der Überlegung, die Speisen danach auszusuchen, ob sie beim Zubereiten und Verzehren möglichst wenig Spuren hinterließen. Astronautenfood wäre ideal gewesen. Aber die Kinder liebten Spaghetti mit Tomatensauce, krümelnde Brötchen, Cola, die beim Öffnen der Flasche spritzte. Ihre Söhne hatten ein fast ebenso perfektes System entwickelt, dem Kontrollwahn ihres Vaters auf diesem Gebiet zu entwischen. Hartnäckig aber blieb er ihnen auf der Spur. Sein Bemühen, sie bändigen zu wollen, war in Wahrheit sein Versuch, sich selbst zu bändigen. Der geniale Künstler, der autistische Ehemann, der kindische Vater, der unablässig und vergebens versuchte, Ordnung in sein Leben zu bringen. Es war ein ständiger Kampf, der immer schlimmer wurde und an den sich Anne immer weniger gewöhnen konnte.
Sie seufzte. Die Geschirrspülmaschine summte, als sei nichts gewesen. Es roch frisch und sauber. Aus dem gekippten Fenster drang Vogelzwitschern herein und das Kreischen der vorbeifahrenden U-Bahn. Irgendwo in der Ferne hupte ein Sonntagsfahrer. Annes Mann saß am Küchentisch und kritzelte mit schnellem Strich einen Ski laufenden Bobtail auf ein Blatt Papier. Es war der Entwurf für sein neues Kinderbuch. Er hatte Erfolg mit seinen Kindergeschichten über Tiere, die wie Menschen waren. Der Maulwurf mit dem Lexikon. Die Tanzschule der Mäuse. Die Katze, die ein Löwe sein wollte. Und nun der Hund im Wintersport. Trotz aller Verärgerung: Es rührte sie, Wolf so versunken in seiner Arbeit zu sehen.
Neben ihm kniete Luis in giftgrünen Shorts und knallrotem T-Shirt auf einem Stuhl und sah seinem Vater zu. Er liebte Farben. Er war ihr Nesthäkchen. Ihr Sorgenkind. Der Liebling aller. Sie hielten ihn sich klein, viel kleiner, als er war. Ein hübsches, selbstbewusstes Kind mit schwarzen Locken und dunklem Teint, mit braunen Augen und einem weichen Mund. «Mein kleiner Schnullermund», sagte Wolf oft zu ihm. Er sah keinem von beiden ähnlich, aber Luis war noch nicht in dem Alter, wo ihm das aufgefallen wäre.
Ganz im Gegensatz zu seinen Brüdern Edward und Pavel, die ihrem Vater, wie alle immer sagten, «wie aus dem Gesicht geschnitten» waren. Sportliche, groß gewachsene Jungen, ein Jahr auseinander, und im Wesen vollkommen gegensätzlich.
«Edward, unser Schlauköpfchen.» Und: «Pavel, unser Handwerker», war Wolfs Kommentar zu seinen Söhnen.
Während Pavel, wenn man ihn suchte, im Keller oder vor dem Haus beim Basteln an seinem Motorroller zu finden war, saß Edward entweder vor dem Computer oder lag im Bett und las in Sachbüchern, die davon handelten, wie man «Millionär in nur einem Jahr» wird, oder so entzückende Titel hatten wie «Werde reich und lass die andern für dich arbeiten». Er war ein Fakten- und Zahlenmensch. Er interessierte sich für Aktien, Geld war seine Leidenschaft, schon als Kind war er geizig gewesen, sparte sein Taschengeld auf, hütete sein Sparbuch, verstand es wie kein anderer – und seine Eltern mit ihren ständigen Finanzproblemen waren ihm da weiß Gott kein Vorbild aus einer Mark zehn zu
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