Der Kuß von Sentze
Adalbert Stifter
Der Kuß von Sentze
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Adalbert Stifter
Der Kuß von Sentze
(1866)
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lit era scripta manet
Adalbert Stifter
(23.10.1805 – 28.01.1868)
1. Ausgabe, Mai 2006
© eBOOK-Bibliothek 2006 für diese Ausgabe
I n einem Waldwinkel liegen drei seltsame Häuser oder
Schlösser.
Das eine Haus liegt an dem Abhange eines Berges. Es
ist aus einem rötlichen Steine erbaut, der hie und da eine
sanfte Rosenfarbe hat, an den Ecken stehen große, runde
Türme, und die Fenster und Tore haben den Rundbogen
und sind mit einem schneeweißen Steine eingefaßt. Von
dem Hause geht ein großer Garten nieder, der allerlei Bau-
werk hat und in einer Art Verwüstung ist. Unterhalb des
Gartens spaltet sich der Hauptberg in zwei Nebenberge,
gleichsam zwei grüne Kissen, die gegen das Tal hinabge-
hen. Und auf der Wölbung dieser Kissen liegen die zwei
anderen Häuser. Sie sind genau wie das obere gebaut, nur
kleiner, und das eine ist ganz aus dem weißen Steine, das
andere ganz aus dem roten.
Diese drei Häuser heißen die Sentze. Das weiße heißt
die weiße Sentze, das rote die rote Sentze und das obere
die gestreifte Sentze. Sonst sind keine Häuser vorhanden.
Rückwärts geht der Waldhang empor, vorwärts senken
sich die Bühel vollends hinab, zwischen ihnen und an ihren
Seiten rauschen Bäche in die Tiefe, und unten ist das Tal
mit Gebüsch erfüllt. Weiter draußen links, wenn man von
den Sentzen kommt, beginnen die Häuser von Wermelin,
das der Volksmund Werblin nennt.
Von der alten Zeit sind die Nachrichten über die Häu-
ser spärlich. Ein Mann soll einmal, da noch der wilde Wald
war, die alte Burg gebaut haben. Er hatte zwei Söhne, die
in beständigem Hader lebten. Da sagte er einmal: „Durch
einen Kuß hat Judas den Heiland verraten, und das ist die
schlechteste Tat gewesen, die auf der Erde verübt worden
ist. Ihr solltet euch einmal küssen, und von da an sollte
keiner dem andern ein Leid tun, weil sonst noch ein Judas-
kuß auf der Welt wäre.“
Die Brüder küßten sich zu einer guten Zeit, und hat-
ten dann eine solche Furcht vor dem Judaskusse, daß sie
fortan nicht mehr haderten, ja sich oft zu der nämlichen
guten Handlung vereinigten. Die Sache wurde in dem Ge-
schlechte der Sentze forterzählt, da es unter den Nachkom-
men manche Streitbare gab, wiederholt, sie wurde endlich
bräuchlich, und zuletzt gar eine Satzung. Die Streitenden
konnten den Kuß verweigern, dazu hatten sie das Recht; ha-
ben sie ihn aber einmal gegeben, dann mußten sie Frieden
halten. Man hat später die Veranlassungen zu dem Kusse
aufgeschrieben, und wenn wieder solche kamen, hat man
das Aufgeschriebene vorgelesen oder zu lesen gegeben. Es
sind keine Nachrichten vorhanden, ob einmal einer von
Sentze die Verpflichtung aus dem Kusse gebrochen hat.
Im Laufe der Zeiten war einmal nur ein Vater mit
zwei Söhnen von dem Geschlechte übrig. Die Söhne wa-
ren uneinig; sie gaben sich aber den Gewährkuß, und als
der Vater gestorben war, wollte keiner der Söhne die Burg
bewohnen, um den andern nicht zu beleidigen. Der eine
baute sich die rote Burg nach dem Vorbilde der roten Farbe
des alten Hauses und der andere die weiße nach dem Vor-
bilde der weißen Einfassung. Das alte Haus aber besaßen
sie gemeinschaftlich. In einer anderen Zeit war nur ein
Junker von einem Zweige des Stammes vorhanden, und
ein Fräulein von einem anderen Zweige. Sie gaben sich den
Kuß, haßten sich dann nicht, ehelichten sich sogar, leb-
ten in sehr großer Liebe, und von ihnen kommen wieder
zahlreiche Sentze, die sich in zahlreiche Zweige verteil-
ten. Weil nun der Kuß nicht bloß den Streit verhindern,
sondern auch Liebe erzeugen konnte, so teilten ihn die
Sentze in zwei Arten ein. Den Liebeskuß nannten sie den
Kuß der ersten Art oder schlechtweg den ersten Kuß, den
Friedenskuß nannten sie den Kuß der zweiten Art oder
schlechtweg den zweiten Kuß. Die Sentze behaupteten,
sie stammen von dem uralten Geschlechte der Palsentze
oder sie seien eigentlich dieses Geschlecht selber, und
jener Huoch de Palsentze, welcher am 24. April des Jah-
res 1109 den Stiftbrief des Klosters Seitenstätten als Zeuge
unterschrieben hat, sei einer ihrer Vorfahrer gewesen, ja
dieser Huoch sei der nämliche gewesen, der als Huoch de
Palsentze zugleich mit seinem Bruder Ruodpret im Jahre
1110 eine Schenkung des edlen Mannes Rapoto de
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