Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)
Hochzeit von Johann Valentin Andreae ist das dritte große Rosenkreuzer-Manifest, das von 1614 in Straßburg datiert.«
»Ein Manifest zu welchem Zweck?«
»Zweck? Was ist Erleuchtung ohne Glauben? Macht ohne Regierungsgewalt? Auferstehung ohne Erlösung?«
Chang unterbrach ihn erneut. »Ich verspreche Ihnen, mein Interesse an diesem lächerlichen Traktat ist unmittelbar und konkret. Leben hängen davon ab.«
»Wessen Leben?«
Chang widerstand dem Drang, sein Federmesser zu ergreifen und zu poltern: »Ihres.« Stattdessen legte er beide Hände auf den Tisch und beugte sich vor. »Wenn ich die Zeit hätte, das Ding zu lesen, würde ich es tun. Die Explosionen. Die Unruhen. Die Lähmung der Ministerien. Dahinter steckt ein Mann.«
»Welcher Mann?«
»Der Comte d’Orkancz. Sie kennen ihn vielleicht als den Maler Oskar Veilandt.«
»Beide Namen sagen mir nichts.«
»Er ist ein Alchemist.«
Locarno stieß ein verächtliches Schnaufen durch das Loch in seinem Gesicht aus. »Was hat er geschrieben?«
»Er hat Bilder gemalt – ein Gemälde trägt den Namen dieses Traktats. Ich muss wissen, was er damit vorhat.«
»Aber das ist absurd!« Locarno schüttelte den Kopf. »Diese Arbeiten sind alles Schlussfolgerungen und Chiffren, weil solche Geheimnisse eben nur von denjenigen verstanden werden, die ein solches Wissen verdienen. Solch ein Traktat mag eine Geschichte erzählen, aber seine Bedeutung ist der symbolischen Mathematik verwandt.«
Chang nickte und erinnerte sich an Veilandts Gemälde, auf dem dunkle Stellen und Linien tatsächlich dicht gesetzte Zeichen und Gleichungen bedeuteten.
»Wenn man sich in einem solchen Werk zum Beispiel auf eine Person bezieht, ist damit auch die Zahl Eins gemeint. Der Adept versteht weiterhin, dass der Autor sich ebenfalls auf das bezieht, was eine Person tut.«
»Tut mir leid …«
»Was ist ein Mensch anderes als Geist, Körper und Verstand? Was außerdem die Zahl Drei ergibt …«
»Dann sind also die Zahl Eins und die Zahl Drei das Gleiche …«
»Nun, das könnte sein. Aber die Dreieinigkeit …«
»Was?«
»Dreieinigkeit.«
»Was zum Teufel …«
»Dreiteilung, in Gottes Namen! Körper, Geist, Verstand. Die Dreieinigkeit des Menschen steht ebenfalls für Nation und die drei Bereiche, die sie bilden: Kirche, Aristokratie und Bürgertum. Heutzutage ersetzt man Aristokratie vielleicht durch Regierung, doch der Vergleich hält stand. Zudem umfassen die drei Bereiche – wie jeder Mensch eine sündhafte Seite hat – notwendigerweise ihr Gegenteil, dunkle Eigenschaften: die Bigotterie der Kirche, die Tyrannei des Staates und die Unwissenheit des Pöbels. Diese Dualität ist genau der Grund dafür, weshalb Geheimhaltung von überragender Bedeutung ist, wenn es darum geht …«
»Das ist genau der Unsinn, dem ich zu entgehen gehofft hatte.«
»Dann sind Ihre Bemühungen hoffnungslos.«
»Können Sie mir nicht die ganze Geschichte erzählen?«
»Aber es ist keine Geschichte! Ich weiß nicht, wie ich es sonst verstehen soll. Es gibt Ereignisse, doch keine geschlossene Erzählung. An ihrer Stelle gibt es nur Einzelheiten und Beschreibungen. Wenn da ein Vogel ist, muss man die Farbe und die Art kennen. Wenn es einen Palast gibt, muss man wissen, wie viele Räume er hat. Von welcher Farbe die Wände im siebten Raum sind. Ob der Kopf des Scharfrichters in einer Kiste liegt, welche Holzsorte …«
»Trotzdem, Pater. Bitte.«
Pater Locarno stieß ein mürrisches Schnauben aus. »Ein heiliger Eremit nimmt gemeinsam mit anderen Gästen an einer königlichen Hochzeit teil. Die Gäste unterziehen sich mehreren Prüfungen, und nur ein paar wenige dürfen der geheimen Hochzeitszeremonie beiwohnen. Doch bevor der junge König und die junge Königin getraut werden können, werden sie und die königliche Familie hingerichtet. Dann werden sie durch weitere Rituale und Opfergaben wieder zum Leben erweckt. Dieser Vorgang – die chymische Hochzeit – steht symbolisch für die Verbindung von Intelligenz, Schönheit und Liebe durch das Göttliche. Der Bräutigam ist Wirklichkeit, und die Braut – weil sie eine Frau ist – sein Gegenpart, das leere Gefäß, das vervollkommnet wird durch die Vereinigung mit dieser gereinigten Essenz.«
»Welche Essenz?«
»Was glauben Sie?«
Chang schnaubte. »Ist das eine Gebrauchsanleitung für Verrückte oder für ein Bordell?«
»Diejenigen jenseits des Schleiers erkennen selten …«
»Noch einmal. Braut und Bräutigam. Er ist ebenfalls
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