Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)
weniger um Wissen als um Besitz ging, hatte natürlich angenommen, und so war Pater Locarno schließlich eingetroffen. Mindestens zehn Jahre lang hatte er das Durcheinander des Admirals gesichtet (es war eine offene Wette unter den Archivaren, wann der Hausmeister Locarno tot auffinden würde) und kaum ein Wort an jemanden gerichtet; eine schwarzgekleidete Spukgestalt, die hereingeschlurft kam, wenn die Türen geöffnet wurden, und erst wieder verschwand, wenn das Licht gelöscht wurde.
Nach Changs Erfahrung gab es zwei Arten von Priestern: Diejenigen mit einer eigenen Lebensgeschichte und diejenigen, die umgehend sämtliche Befehle erfüllten. Letztere lehnte er rundheraus als Dummköpfe, Feiglinge und Eiferer ab. Ersteren hielt er zugute, dass unter ihnen womöglich einer zu finden wäre, dessen Berufung von einem gewissen Weltverständnis herrührte. Im Fall von Pater Locarno verortete ihn allein schon seine Nase, die man ihm mit einer Schere abgeschnitten hatte, in diesem Lager. Ob ihn das als geläuterten Verbrecher zeichnete oder als einen Ehrenmann, dessen Schicksal ihn unglücklicherweise auf eine Galeere der Berber geführt hatte, wusste niemand. Es gab schon genug Anlass für Spekulationen, weshalb dieser verwitterte Jesuit den Auftrag erhalten hatte, sich um den Fluister-Nachlass zu kümmern – was heißen sollte, dass Chang sich fragte, wie viele der Bücher Pater Locarno heimlich verändert oder vernichtet hatte.
Er trat in die Fluister-Nische. Pater Locarno saß, wie er es nach Changs Erfahrung stets tat, an einem Tisch, der mit Büchern und Journalen bedeckt war. Sein graues Haar war mit einer Kordel zusammengebunden, und seine Brille wurde wegen seiner Nase von Metallschlaufen um jedes Ohr gehalten. Die sichtbaren Nasenhöhlen waren widerlich feucht.
»Ein esoterisches Ritual«, sagte Chang. »Ich habe Fragen und wenig Zeit.«
Pater Locarno blickte mit einer strengen Miene auf, so als verbessere er andere gern. »Es gibt kein Wissen ohne Zeit.« Die Stimme des Jesuiten war seltsam hoch und quiekend, fast schweinchenhaft.
Chang zog seine Handschuhe aus und warf sie nacheinander auf den Tisch. »Es wäre korrekter zu sagen, dass es kein Wissen ohne Handel gibt.« Er schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr: »Also, Pater, es geht um Folgendes. Der Bischof von Baax-Sonk hat seine fünf Sinne nicht mehr beisammen, seit er vor ungefähr zwei Monaten Harschmort House besucht hat. Vielen anderen geht es ebenso – darunter Henry Xonck. Man schreibt es dem Blutfieber zu. Das ist eine Lüge.«
Pater Locarno beobachtete Chang eingehend. Sie hatten noch nie miteinander Geschäfte gemacht, auch wenn der Priester durch die Mitarbeiter gewiss schon Gerüchte gehört hatte.
»Bieten Sie die Genesung Seiner Lordschaft an?«
»Nein. Das Gedächtnis Seiner Lordschaft wurde in ein alchemistisches Behältnis eingefügt.«
Pater Locarno dachte darüber nach. »Wenn Sie sagen Behältnis …«
»Ein Glasbuch. Alles, was er wusste, jedes wertvolle Geheimnis, das er bewahrte, wird denjenigen in die Hände fallen, die das Buch hergestellt haben.«
»Und wer soll das sein?«
»Ich gehe vom Schlimmsten aus. Aber ich glaube, dass Ihre Vorgesetzten mit dieser Information ein paar Vorsichtsmaßnahmen ergreifen könnten.«
Pater Locarno runzelte nachdenklich die Stirn und nickte dann, als wolle er ihrem Handel zumindest so weit zustimmen. »Mir wurde gesagt, Sie seien ein Verbrecher.«
»Und Sie sind ein Spion.«
Locarno schnaubte missbilligend – ein reflexartiges Verhalten, bei dem sich die Öffnungen in seinem Gesicht blähten. »Ich diene lediglich dem übergeordneten Frieden. Wie lautet Ihre Frage?«
»Was ist eine chymische Hochzeit?«
»Du meine Güte!« Locarno grinste. »Nicht gerade das, was ich erwartet hatte … kein alltägliches Thema.«
»Nicht ungewöhnlich auf Ihrem Spezialgebiet.«
Locarno zuckte mit den Schultern. Chang wusste, dass der Mann über das Schicksal des Bischofs – und die jüngsten Veränderungen in der Stadt – in Bezug auf Alchemie nachdachte.
»Dieses Blutfieber – jetzt wo Lord Vandaariff sich wieder erholt hat, kann vielleicht Seine Lordschaft den Bischof …«
»Es gibt keine Heilung«, unterbrach ihn Chang. »Der Bischof ist verloren. Diese chymische Hochzeit. Was bedeutet das? Ist es wirklich?«
»Wirklich?« Locarno lehnte sich auf dem Stuhl zurück und setzte zu einer Erklärung an. »Ihre Formulierung ist naiv. Es ist ein esoterisches Traktat. Die Chymische
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