Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)
sollte man nicht warten lassen.«
Kapitel Fünf
DER SCHREIN
C hang ignorierte die Schüsse. Es war Svensons Aufgabe, sich um die Männer hinter ihnen zu kümmern. Eine kleine Unachtsamkeit, und Changs Leben wäre in Foisons Händen: Er durfte dem Aufruhr um ihn herum nicht mehr Beachtung schenken als ein Chirurg den Schreien eines Patienten.
Chang hielt das aufgeklappte Rasiermesser in der rechten Hand. In der Linken hatte er einen schwarzen Umhang, der lang genug war, um mit ihm ein Messer zu umwickeln, das, richtig geworfen, Foison verwirren könnte. Foison setzte ihm zwei Messer entgegen, die man werfen, mit denen man aber auch zustoßen konnte und die schwer genug waren, dass ein Rasiermesser glatt daran zerbrechen konnte. Anstatt große Bewegungen zu machen, würde Foison sie lieber gezielt einsetzen: das eine Messer, um Changs Abwehr auf sich zu lenken, und das andere für den tödlichen Stoß. Changs Möglichkeiten waren begrenzter. Das Rasiermesser konnte zwar große Mengen Blut sprudeln lassen, aber um einen Mann wie Foison außer Gefecht zu setzen, musste er mit der Klinge an seine Kehle kommen. Ansonsten würde nichts verhindern, dass das zweite Messer zustieß.
Ein Zuschauer hätte geschworen, dass sich keiner der beiden regte, doch für Chang waren es eine ganze Reihe von Finten und Abwehrschlägen, die in kaum wahrnehmbarer Verlagerung seines Gewichts, dem Beugen der Finger und den Atempausen erkennbar waren. Geschicklichkeit stand an zweiter Stelle, wo doch ein Vorteil in den Gegebenheiten alles zunichtemachen konnte: ein Messer, ein Stuhl oder ein Treppensturz. Chang kümmerte es kaum, und er erwartete den gleichen Mangel an Höflichkeit von der anderen Seite. Er war kein Dandy, der sich etwa in einem Duell gewähnt hätte.
Schnell wie eine Kugel wollte Foison einen hoch angesetzten Stoß in Changs Gesicht anbringen. Chang ließ den Umhang durch die Luft wirbeln und hoffte, die Messerspitze zu treffen …
Beide Männer riss es in einem Schauer aus Feuer und Schutt und dem Pfeifen umherfliegenden Glases von den Füßen.
Chang stand auf und warf den Mantel ab, der die Trümmer der Explosion abgefangen hatte. Keine zwei Meter entfernt tastete Foison im Rauch nach den Messern. Changs Schwinger erwischte ihn unter dem Auge, und ein brutaler Tritt warf ihn zu Boden.
Chang klingelten die Ohren. Die Schatten der Soldaten tanzten bereits im Bereich des Portikus. Jeden Moment würde die Handelsbörse gestürmt werden. Zu seinen Füßen drehte und wand sich etwas – die strampelnden Beine von Francesca Trapping, ihr Körper geschützt von den Armen und dem Militärmantel von Doktor Svenson. Chang riss das Mädchen hoch und zog auch Svenson am Kragen auf die Füße, wobei er nicht sicher war, ob er noch lebte. Der Doktor schlug Chang mit der Hand auf den Arm und bekam einen Hustenanfall, und Staub klebte ihm im Gesicht und in den Haaren.
Celeste Temple konnte Chang nirgends entdecken.
Überall rings umher lagen Leichen, deren weiße Abdeckplanen die Explosion fortgerissen hatte. Bei dem Staub und Rauch und den vielen Frauen und Kindern war es unmöglich, eine einzelne Person mit rötlichem Haar zu erkennen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass überall Tote waren. Nichts bewegte sich mehr.
Er hatte sie im Stich gelassen. Ohne zu zögern, rannte Chang zum nächsten Bogengang, das Mädchen unter den Arm geklemmt und Doktor Svenson gewaltsam hinter sich her schleifend.
Er trat ein Fenster ein, hievte seinen sich windenden Ballast hindurch und trieb die beiden dann den Weg entlang zu einer kleinen Ziegelhütte. Er wusste genau, wo sie waren.
Das Mädchen war in Tränen aufgelöst.
Chang schnappte sich zwei Laternen, zündete sie an und ging zu einer schmutzigen Treppe, die abwärtsführte. Ungeduldig hielt er die eine Laterne dem Doktor hin.
»Haltet euch an den Händen, die Stufen sind glatt.« Changs Stimme war heiser. Sie hatten die Wand zu ihrer Linken und den dunklen stinkenden Fluss zu ihrer Rechten, bis sie eine Stelle erreichten, wo die Stufen einigermaßen sauber waren. Dort ließen sie sich auf Changs Geste hin nieder.
»Wir sind in der Kanalisation. Vielleicht können wir unbemerkt vorankommen.« Svenson sagte nichts. Das Mädchen zitterte. Chang hielt ihr die Laterne vors Gesicht. »Bist du verletzt? Kannst du mich hören … deine Ohren?«
Francesca nickte und schüttelte dann den Kopf – ja für hören und nein, sie war unverletzt. Chang blickte zu Svenson, dessen Gesicht noch immer von
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