Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)
»Man wirft Schafen ja auch nicht ihre Ängstlichkeit vor.«
»Wenn das Schaf ein Mann ist, dann schon.«
Cunsher rieb mit dem Zeigefinger seinen Schnauzbart. »Und wenn Sie sich erheben würden, wie der Mob, der Raaxfall niedergebrannt hat – würden Sie sie nicht genauso verachten?«
Sie gingen weiter. Chang spürte Cunshers Blick auf sich.
»Was ist?«
»Verzeihen Sie. Die Narben sind ungewöhnlich. Wie kommt es, dass Sie nicht blind sind?«
»Eine freundliche Natur hat mich davor bewahrt.«
»Alle wollen gerne wissen, was passiert ist. Doktor Svenson und Mr. Phelps haben eines Abends aus medizinischer Sicht darüber gesprochen.« Auf Changs Schweigen hin riss sich Cunsher zusammen und nickte entschuldigend. »Vielleicht sind Sie ja neugierig auf meine Geschichte. Die Umstände des Exils, das Leben, das ich hinter mir gelassen habe …«
»Nein.«
»Zweifellos ist das ein Gemeinplatz. An wie viele Seelen erinnern wir uns? Und wenn wir sterben, wie viele andere sterben mit uns, weil sich niemand mehr an sie erinnert?«
»Keine Ahnung«, antwortete Chang kurz angebunden. »Was wissen Sie über die Gönnerin der Contessa im Palast, Sophia von Strackenz?«
Cunsher nickte angesichts des Themenwechsels. »Ein weiterer Gemeinplatz. Eine verarmte Exilantin mit dem Ruch, nicht mehr attraktiv zu sein.«
»Mehr nicht?«
»Die Prinzessin ist ausgesprochen schrullig.«
Chang runzelte die Stirn. »Die Contessa tut nichts ohne Grund. Sie hat sich im Palast versteckt, während sie die Glashütte und Crabbés Labor für sich hat arbeiten lassen. Jetzt hat sie alle im Stich gelassen, als hätte sie ihr Ziel erreicht.«
Chang blieb stehen. Cunsher holte ihn ein und blieb ebenfalls schwer atmend stehen. Als er sah, wo Chang sie hingeführt hatte, schnalzte er mit der Zunge.
»Sie haben meinen Plan erfasst«, stellte Chang fest.
»Ganz recht. Bei der Gesellschaft am Hof geht es schließlich um Vetternwirtschaft.«
»Und sie hat ihre Ziele erst kürzlich festgelegt.«
»Wirklich schamlos, aber so ist die Dame.«
»Ganz genau.«
Angesichts seiner äußeren Erscheinung erbot sich Cunsher, draußen zu bleiben und aufzupassen.
»Und wenn Sie nicht wieder auftauchen oder in Gefahr geraten?«, fragte er.
»Verschwinden Sie. Suchen Sie Svenson. Finden Sie eine Möglichkeit, nach Harschmort zu kommen, und verpassen Sie Vandaariff eine Kugel.«
Cunshers Schnauzbart zuckte, als er lächelte. Chang ging zu einer Villa, die von Soldaten in schwarzen Stiefeln und mit hohen Bärenfellmützen bewacht wurde – Gardesoldaten.
Der diensthabende Offizier hatte gerade eine Gesellschaftsdame mit fleischigem Kinn und orangerot gefärbtem Haar passieren lassen. Als Chang sich näherte, nahm er erneut seinen alten Platz ein und versperrte den Zugang.
»Pater.«
»Lieutenant. Ich würde gern mit Lady Axewith sprechen, sofern sie zu Hause ist.«
»Zu Hause bedeutet nicht das Gleiche wie empfangsbereit, Pater. In welcher Angelegenheit?«
»In einer Angelegenheit zwischen dem Erzbischof und Lady Axe with.« Chang war zwei Zentimeter größer als der Grenadier und starrte den Mann über seinen Brillenrand hinweg eindringlich an. Der Lieutenant hielt dem Blick vielleicht zwei Sekunden stand.
»Woher soll ich wissen, dass Sie vom Erzbischof kommen?«
»Das tun Sie nicht.« Chang zog ein Stück Papier aus seiner Priestersoutane.
»Das ist ein Haftbefehl.«
»Wissen Sie, wie viele Gefangene allein in den letzten beiden Tagen gemacht wurden? Glauben Sie, die Gefängnisse sind dafür ausgelegt?«
»Was hat das mit Lady Axewith zu tun?«
»Das sollte Sie selbst entscheiden. Und Sie sollten sich fragen, ob die Zurückweisung eines Erzbischofs nicht Ihre Karriere beenden könnte.«
Er wäre ein ungewöhnlicher Unteroffizier gewesen, wenn er einer solchen Rhetorik widerstanden hätte, und der Zutritt wurde gewährt. Sich schwer auf seinen Stock stützend, betrat der Kardinal den Innenhof und fragte sich, ob die Contessa ihn bereits von einem der Fenster aus erspäht hatte.
Der als Arthur Michael Forchmont geborene Lord Axewith erlangte seinen Titel erst, nachdem ein vernichtendes Jahr seinen Onkel, seinen Cousin und seinen Vater, die ihm im Weg gestanden hatten, dahingerafft hatte. Weil es ihm an eigenen Überzeugungen mangelte, übernahm er gern die des Herzogs von Stäelmaere, und als Seine Gnaden verstarb, wurde er wegen seiner Formbarkeit als verlässlicher Erbe angesehen. Ernst, schroff und zum Glück nicht dem Alkohol zugeneigt
Weitere Kostenlose Bücher