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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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erfasste.
    »Bitte«, sagte er, »Ihre Frau Mutter verlangt nach Ihnen.«
    Da löste sie sich endlich aus dem Menschmagnetismus der Standuhr und eilte quer durchs Schloss in den Westflügel, hinauf in den zweiten Stock.
    Im Flur erwartete sie ein weiterer Geist, so blass wie der in der Uhr.
    »Was ist passiert?«
    Ihre Mutter Sylvette blickte ihr reglos entgegen, stand im weißen Nachthemd vor einer offenen Zimmertür, mit der Tess keine frohen Erinnerungen verband. Dahinter lagen die Räume ihrer Großmutter.
    Charlotte Institoris war einmal eine stolze, herrische Frau gewesen, aber das wusste Tess nur aus Erzählungen. Als Kind war sie ihr wie eine Hexe erschienen, später wie ein Schatten, der nicht sprach, nichts sah, nur atmete und horchte. Charlotte hatte erst den Verstand und dann ihr Augenlicht verloren – vor zwanzig Jahren, als in den Gängen und Sälen des Schlosses Blut geflossen war.
    Tess eilte auf Sylvette zu und blickte in ihr ausdrucksloses Gesicht, bar jeder Emotion. Ihre Mutter war erst siebenunddreißig, eigentlich viel zu jung für eine Tochter in Tess’ Alter, aber die Einsamkeit auf dieser Insel hatte sie verwittern lassen wie eine Marmorstatue. Sie war noch immer eine schöne Frau, ihr blondes Engelshaar lang und gelockt, ihr Körper zierlich
wie der eines Mädchens. Doch ihre Züge verrieten Erfahrungen, die keinem Menschen zu wünschen waren, und in ihren Augen gab es Spuren eines mühsam unterdrückten Traumas.
    »Mutter«, sagte Tess eindringlich, »was ist los?«
    Der Diener lief an ihnen vorbei in Charlottes Gemächer, und jetzt hörte Tess noch eine weitere Stimme im Inneren, eines der Dienstmädchen.
    »Charlotte?«, fragte Tess leise. Sie hatte die verrückte alte Frau schon lange nicht mehr Großmutter genannt.
    Sylvette nickte. Nur einmal, fast unmerklich.
    Da erschien wieder der Diener in der Zimmertür und brachte den Leidgeruch des Alters in solcher Intensität mit sich, dass es Tess einen Atemzug lang die Luft verschlug.
    »Mutter ist tot«, sagte Sylvette sehr ruhig. Sie schien etwas hinzufügen zu wollen, machte aber eine Pause, als müsste sie in ihren Erinnerungen erst nach einem Namen suchen.
    Tess streichelte ihre Wange und schenkte ihr ein tröstendes Lächeln.
    Langsam drehte Sylvette ihren Kopf in die Richtung des Dieners, ohne den Oberkörper zu bewegen. Ihre trockenen Lippen lösten sich voneinander. »Schickt ein Telegramm an meine Schwester«, sagte sie. »Aura soll nach Hause kommen.«

KAPITEL 3
    Und wieder das Schloss, dachte Aura, als das Boot sie vom Strand hinüber zur Insel brachte.
    Der Landungssteg blieb zurück, die Dünen verschwanden in milchigem Küstennebel. Unvermutet durchbrach der Bug eine Dunstwand und stieß hinaus in klare Seeluft. Die Schlossinsel mit den fünf kleineren Eilanden, die sie wie Fingerkuppen eines Handabdrucks umgaben, lag unverschleiert vor ihr. Den Leuchtturm auf der nördlichsten Felseninsel konnte sie von hier aus nicht sehen, das Schloss versperrte die Sicht, aber sie hörte die Möwen, die dort seit Jahr und Tag nisteten. Schrilles Kreischen, das sich mit dem Krachen der Brecher an den Steilwänden mischte.
    All das hier hatte Aura nie losgelassen, ganz gleich wohin es sie während der vergangenen achtzehn Jahre verschlagen hatte. Die Villen in Portugal, Paris und Turin, zuletzt ein Haus in London  – immer gab es irgendetwas, das sie an den Ort ihrer Kindheit erinnerte. Vor Jahrzehnten hatte das Schloss als Vorlage gedient für Böcklins Gemälde Die Toteninsel , und je älter Aura wurde, desto passender erschien ihr dieser Titel. Das Gemäuer hatte mehrere Unsterbliche hervorgebracht, trotzdem blieb der Tod die beständigste Erinnerung, die sie mit diesen Mauern verband.
    Der dichte Zypressenhain im Zentrum der Insel verbarg den Mittelteil des Schlosses, rechts und links schauten die Seitenflügel hervor. Die Dächer und Kamine hoben sich schwarz von einem Himmel ab, aus dem alle Farbe entwichen war.
    Der Stammsitz ihrer Familie.

    Viel war von dieser Familie hier nicht übrig. Sie selbst war das ganze Jahr über unterwegs, Gian lebte in Paris, Tess in Berlin. Jetzt, da ihre Mutter tot war, war Sylvette die letzte Bewohnerin, Herrin über Dutzende Zimmer mit verhängten Möbeln und blinden Spiegeln. Aura verstand nicht, was sie an diesem Ort hielt. Die Institoris besaßen Häuser in mehreren europäischen Metropolen, Geld war noch immer genug vorhanden. Nichts zwang ihre Schwester zu bleiben. Nun erst recht nicht.
    Das

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