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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Bild seiner selbst zusammen, ein Mosaik von Empfindungen, aus dem eine Ahnung seines wahrhaftigen Zustands wurde.
    Er lag auf dem Rücken, nein, er saß . Aufrecht, mit geradem Kreuz und herausgedrückter Brust, wie auf einem Thron. Er konnte sich nicht aus eigener Kraft bewegen, stattdessen wurde er bewegt. Rund und rund im Kreis. Übelkeit und Schwindel waren übermächtig, doch bewusst spürte er sie nur in wenigen kostbaren Augenblicken. Womöglich füllten sie ihn längst derart aus, dass sie jede andere Empfindung erstickten.
    Er drehte und drehte und drehte sich auf seinem Sitz, Arme und Beine festgeschnallt, drehte und drehte sich, den Hals fest
an die hohe Lehne gezurrt, die Augen verbunden, spitze Schnallen am Hinterkopf, schmerzhaft wie Nägel, die in seinen Schädel drangen.
    Die Dunkelheit kehrte zurück in seine Sinne, brachte ihm Vergessen und den lindernden Sturz ins Nichts. Dann war er wieder nackte, entblätterte Existenz, kein Körper, kein Gefühl, kein freier Gedanke.
    Was immer mit ihm geschah, es geschah schon immer mit ihm. Ein Kreislauf ohne Anfang, ohne Ende.
    Er war einmal Gillian gewesen, der Hermaphrodit. Jetzt war er ein Gefangener. Und seit einer Ewigkeit konnte er nicht mehr aufhören zu schreien.

KAPITEL 5
    »Versuch’s mit dem Messer.«
    »Gib mal her.«
    »Warte ... hier.«
    »Das ist kein Messer, das ist ein Opferdolch. Aus dem Kongo, wenn mich nicht alles täuscht.«
    Tess starrte Aura an. »Du weißt das unnützeste Zeugs der Welt, ist dir das eigentlich klar?«
    »Mein Dilemma. Ich lese Bücher, viel zu viele, und irgendwas bleibt hängen, und nach einer Weile hab ich das Gefühl, ein zwanzigbändiges Lexikon in meinem Kopf spazieren zu tragen. Nur kann ich mit nichts von all dem wirklich was anfangen. Ich meine, mit nichts ! Frag mich nach was, das einem weiterhilft, wenn mal wieder die Telefonleitung gestört oder ein Wasserrohr verstopft ist. Oder nur nach einem verdammten Kuchenrezept ... Aber wenn du mal Interesse an Flamels Formel für die theoretische Verdampfung der Wirklichkeit oder am geheimen Testament des Demokrit von Abdera hast – dann bin ich genau die Frau, die du brauchst.«
    Während Aura das sagte, lag sie auf dem Rücken vor der Standuhr im Speisezimmer, hatte den Oberkörper durch eine Luke unterhalb der Holztür ins Innere geschoben und ihre Schulterblätter auf der Schwelle mit einem Kissen abgestützt.
    Von unten blickte sie in einen Mechanismus, wie ihr noch keiner untergekommen war. In der Mitte hatte sein Erbauer hochkant eine Zwischenwand eingezogen, jenseits der sich das eigentliche Uhrwerk befand. Davor waren die beiden großen Figuren untergebracht, die sich abends um sieben aus dem
Kasten schoben. Aura konnte von unten nur ihre baumelnden Füße erkennen. Das eine Paar war skelettiert.
    Hätte diese Standuhr Arme und Beine besessen, Aura hätte auf der Stelle glauben können, dass die Vielzahl der Zahnräder, Antriebsriemen und Spiralen ausreichte, um das verfluchte Ding zum Leben zu erwecken wie einen Golem.
    Mit dem gebogenen Dolch, den ihre Nichte ihr gereicht hatte, stocherte sie ziellos in der vertrackten Mechanik. »Woher hast du den?«
    Tess lachte leise. »Hab ich in meinem Zimmer gefunden, hinterm Schrank. Ich muss ihn als Kind mal da versteckt haben. Hat nicht Friedrich ihn damals mitgebracht? Von einer seiner Reisen nach Deutsch-Schwarz-Irgendwas-Afrika?«
    Aura schob die Dolchspitze hinter ein komplexes Bündel aus Stahlfedern. »Der ehrenwerte Freiherr von Vehse ... An den hab ich lange nicht mehr gedacht.«
    Friedrich war der Liebhaber ihrer Mutter gewesen. Vor einem Vierteljahrhundert hatte Auras Stiefbruder ihm auf der Friedhofsinsel mit einem Steinkreuz den Schädel eingeschlagen. Niemand konnte behaupten, die Familiengeschichte der Institoris sei unkompliziert.
    Mit einem Stöhnen zog sie Arm und Klinge aus der filigranen Mechanik. »Von hier unten aus komme ich nicht ran. Es muss irgendeinen anderen Weg geben, dieses Zwitschern wieder abzustellen.«
    In der vergangenen Nacht hatte sie es zum ersten Mal mit eigenen Ohren gehört. Seit dem Tod ihrer Mutter vor drei Tagen erklang es regelmäßig um Mitternacht, ausgelöst von einem dreizehnten Gongschlag aus dem Inneren der Uhr.
    Tess verzog das Gesicht. »Glaubst du, es hat was mit Charlotte zu tun?«
    Aura rutschte auf dem Rücken aus dem Uhrkasten und setzte sich auf. »Mit ihrem Geist?«

    »Ich glaube nicht an Gespenster. Du etwa?«
    Aura zuckte die Schultern. Ihre

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