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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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eines der fünf umliegenden Eilande. Morgen würde dort ihre Mutter zu Grabe getragen werden, in dem alten Mausoleum ihrer Familie.
    Ihre Familie. Das klang falsch, und das war nicht die Schuld der anderen. Aura ging ihnen allen aus dem Weg, seit Jahren schon. Sie war unsterblich, alle übrigen waren es nicht. Aura hatte akzeptiert, dass sie jeden von ihnen beerdigen würde, eine Vierundzwanzigjährige am Grab ihres erwachsenen Sohnes, ihrer Nichte, ihrer einzigen Schwester. Sie hatte geglaubt, sie würde lernen, mit diesem Wissen umzugehen, aber tatsächlich wurde es schlimmer, mit jedem neuen Jahr.
    Und so zog sie sich immer weiter zurück. Ihr war bewusst,
dass sie damit nicht nur dem Tod der anderen aus dem Weg ging, sondern zugleich deren Leben verpasste – und dass sie das vielleicht irgendwann bereuen würde. Aber sie hatte einmal jemanden verloren, der ihr alles bedeutet hatte, aus Egoismus und verliebter Einfalt, und sie wollte das kein zweites Mal durchmachen.
    Gillian war nicht tot, soweit sie wusste, aber in ihrem Herzen fühlte es sich so an. Er war der Einzige, der sie hätte verstehen können, ein Unsterblicher wie sie. Wenn auch ein Unsterblicher wider Willen.
    Vor zehn Jahren hatten solche Gedanken sie dazu getrieben, sich im Bett zu verkriechen und an die Decke zu starren. Doch darüber war sie längst hinaus. Gewöhnung zog auch dem schlechtesten Gewissen den Stachel. Heute fiel es ihr leichter, sich an den Moment zu erinnern, an dem sie Gillian den Wein mit dem Sud des Gilgameschkrauts gereicht hatte. Sie hatte einen Fehler begangen und ihn bereut. Sie war in der Lage, mit den Dingen abzuschließen.
    Und deshalb war sie letztlich hier. Um Abschied zu nehmen und abzuschließen. Um ein letztes Mal Zeit mit ihrer Mutter zu verbringen, und sei es nur mit ihrem Leichnam.

KAPITEL 4
    Gillian, der Hermaphrodit, fragte sich nicht zum ersten Mal, ob ihm das Gilgameschkraut nicht Unsterblichkeit, sondern Ewigkeit geschenkt hatte: eine Fortdauer über den Tod hinaus, eine unbegrenzte Existenz, auch wenn sein Körper zerstört war, sein Gehirn längst Staub.
    War das, was er gerade durchmachte, das Leben nach dem Tod? Oder vielmehr der Augenblick seines Sterbens, zerdehnt zu Leere und schwarzer Unendlichkeit?
    Um ihn war Dunkelheit. Nicht die geringste Spur von Licht, kein noch so schwacher Schimmer, an den sich seine Augen hätten gewöhnen können. Undurchdringliche Finsternis.
    Er wusste nicht, wie lange er sich bereits in dieser Umgebung befand, war nicht einmal sicher, ob er wirklich wach war und, falls ja, ob das einen Unterschied bedeutete. Seine vagen Erinnerungen an die letzten Augenblicke vor der Schwärze waren nicht greifbar, sie mochten Stunden, Tage oder Jahre zurückliegen. Und das Dunkel schien sich beständig auszudehnen, fraß sich rückwärts durch seine Erinnerungen, verschlang Bilder und Töne und die Gewissheit, dass es überhaupt eine Zeit davor gegeben hatte.
    Womöglich hatte dieser Zustand so wenig einen Anfang wie ein Ende und Gillian hatte nie anderswo existiert. Er drohte zu vergessen, wer er war. Vielleicht war er nie irgendjemand gewesen, nur ein Stück gestaltloser, charakterloser Verstand. Ein Denkding, das nichts anderes konnte, als seine Existenz in diesem einen Augenblick wahrzunehmen, ohne Davor und Danach.

    Manchmal aber, wenn er kurz davor war, seine Lage zu akzeptieren, erwachte etwas in ihm, das ein Gefühl sein mochte. Mehr noch, ein Wunsch.
    Nach Veränderung. Nach Licht.
    Nach Ich .
    Dann sträubte er sich gegen die Gleichgültigkeit und das Unausweichliche seiner Lage. Er wollte wieder mehr sein als ein Nichts im Nichts, suchte in sich nach Bildern und Tönen, nach Gewissheiten, die über die Finsternis hinausgingen. Und selten, so selten, regte sich in ihm eine Ahnung von Körperlichkeit. War er mehr als nur Geist, mehr als Fragen, auf die es keine Antworten gab? Verschwommen erinnerte er sich an seinen Namen. Und daran, dass er einmal Arme und Beine besessen hatte, einen Leib, der nicht Mann und nicht Frau gewesen war. Und ihm kamen Zweifel. Vielleicht besaß er diesen Körper noch immer und mit ihm auch die Macht, ihn zu beherrschen, zu benutzen und die Ketten seiner Gefangenschaft zu zerbrechen.
    Denn ein Gefangener war er, zumindest dessen war er sich gewiss. Von Zeit zu Zeit, in den Sekundenbruchteilen blitzartiger Klarheit, spürte er etwas unter seinem Körper. Aus einer Vielzahl solcher Eindrücke, keiner dauerhafter als ein Lidschlag, setzte sich ein

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