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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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PROLOG
18 Jahre zuvor
1906

    An jenem Abend ging sie hinaus zu ihm auf die Klippe. Die Kreidefelsen waren in Purpur und Karmesin getaucht, und die Brandung griff mit ihrer Gischt herauf zu der einsamen Gestalt an der Steilküste.
    Später würde Aura erkennen, dass sie in dieser Stunde alles aufs Spiel gesetzt und alles verloren hatte.
    Die Sonne stand noch immer hoch genug, um Wolkenschatten über die Ostsee zu treiben, wie Umrisse formloser Wesen, die unter den Wogen zum Ufer strebten, sich träge aus der Brandung schoben und landeinwärts krochen.
    Gillian hatte die See nie gemocht, Aura wusste das. Dennoch kam er oft hierher und schaute in die Ferne. Schaute in das Mysterium seiner Vergangenheit, vielleicht in ihre Zukunft.
    »Es ist wie ein Geheimnis, das jeder kennt«, sagte er, als er ihre Schritte auf den Felsen hörte, »nur ich nicht.«
    Die beiden Weingläser in ihrer Hand klirrten leise, als sie neben ihn trat und erst die Flasche, dann die Gläser am Boden abstellte. Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich.
    »Wenn alle es kennen, ist es kein Geheimnis mehr«, sagte sie und kam sich vor wie eine Spielverderberin. Zumal sie genug Erfahrung hatte mit Geheimnissen, um es besser zu wissen. Manchmal waren gerade jene am besten verborgen, die für jeden sichtbar waren.
    »Alle lieben das Meer«, sagte er, »nur ich nicht.«
    Das war die Stimmung, in der sie ihn oft hier draußen vorfand, anders als sonst, wenn er charmant und lakonisch, romantisch
und zynisch sein konnte. Auf der Klippe überkam ihn stets eine rätselhafte Melancholie.
    »Schon mal daran gedacht, in die andere Richtung zu schauen?« , fragte sie.
    Endlich löste er seinen Blick vom Horizont, schenkte ihr ein Lächeln und fädelte mit den Fingerspitzen schwarze Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. Dann küsste er sie mit salzigen Lippen.
    In ihrem Rücken erhoben sich die Efeumauern des Schlosses. Das Gebäude nahm den größten Teil einer Felseninsel ein, kaum fünfhundert Meter von den weißen Dünen des Festlands entfernt. Drei Fensterreihen blickten hinaus aufs Meer. Hier, an der Rückseite des Gebäudes, vom Ufer abgewandt, gingen die Mauern fast überall in die Steilküste über. Nur an dieser einen Stelle gab es einen natürlichen Austritt, eine Ausbuchtung in den Kreidefelsen, die sie über eine schmale Tür im Efeu erreichen konnten.
    Die Klippe ragte nicht weiter als zehn Meter ins Meer hinaus. Als Aura ein Kind gewesen war, hatte man ihr verboten, sie zu betreten, aus Sorge, der Seewind könnte sie in die Tiefe reißen. Natürlich war sie trotzdem immer wieder hergekommen, schon weil es im Schloss nicht viele Möglichkeiten gab, gegen Regeln zu verstoßen. Und auch, weil der Tod damals etwas Anziehendes, Faszinierendes gehabt hatte.
    Heute war der Tod kein Thema mehr für sie. Nicht ihr eigener.
    »Es wäre schön, wieder einmal etwas anderes zu sehen«, sagte sie. »Nicht immer nur die Gänge und Säle des Schlosses. Und das Meer und die leeren Dünen.« Sie glaubte, dass das auch seine Gedanken waren. Zwei Jahre nach ihrer Rückkehr aus Swanetien fiel ihr im Schloss Institoris die Decke auf den Kopf.
    »Du möchtest reisen?«, fragte er.
    »Ich möchte irgendwas tun, nur nicht hier.«

    Sie sprachen nicht zum ersten Mal darüber, von hier fortzugehen, aber heute war der Tag, an dem vieles anders werden sollte.
    Aura sah in sein schönes Hermaphroditengesicht, musterte die Anmut seiner Züge, nicht ganz männlich, auch nicht weiblich, sondern etwas dazwischen, das sich nie so recht fassen ließ. Gillian war zweigeschlechtlich, aber wie eine Frau erschien er nur, wenn er es wollte. Meist gab er seiner maskulinen Hälfte den Vorzug, und Aura hatte selten etwas anderes als einen Mann in ihm gesehen. Er hatte keinen Bartwuchs, besaß makellose Haut und fein geschnittene Wangenknochen. Die dunklen Augen bildeten einen schattigen Kontrast zu seinem blonden Haar, auch seine Wimpern und Brauen waren braun. Er war voller Widersprüche, außen wie innen, und dafür liebte sie ihn.
    »Vielleicht«, sagte er mit einem Grinsen, »sollten wir wirklich bald verreisen, bevor ich alt und krumm bin und du noch immer aussiehst wie vierundzwanzig.«
    Seit zwei Jahren wurde sie nicht mehr älter, auch wenn es ihr nicht anzusehen war. Vierundzwanzig und sechsundzwanzig bedeuteten im Spiegel keinen Unterschied, und auch für sie gab es Tage nach schlaflosen Nächten, an denen sie sich fühlte wie fünfundsiebzig. Die Unsterblichkeit, die ihr das

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