Die Ameisen
Öffnung freigibt. Dort ist es. Nr. 327 untersucht das Versteck, findet es perfekt. Bleibt nur noch, einen dritten Komplizen aufzustöbern. Sie gehen hinaus, verschließen das Loch sorgfältig. Das Weibchen Nr. 56 meint:
Wir nehmen die erstbeste. Laß mich machen.
Schon bald begegnen sie jemandem, einer großen geschlechtslosen Soldatin, die ein Stück eines Schmetterlings mit sich schleift. Das Weibchen redet sie von weitem mit emotionsgeladenen Botschaften an, spricht von einer großen Bedrohung für das Volk. Sie bedient sich der Sprache der Emotionen mit solch virtuoser Feinheit, daß das Männchen baß erstaunt ist. Die Soldatin läßt augenblicklich ihr Wildbret fallen und kommt herbei.
Eine große Bedrohung für das Volk? Wo, wer, inwiefern, warum?
Das Weibchen schildert ihr kurz die Katastrophe, die die erste Expedition des Frühjahrs ereilt hat. Ihre Art, sich auszudrücken, verströmt köstliche Düfte. Sie hat bereits den Anmut und das Charisma einer Königin. Die Kriegerin ist schnell gewonnen.
Wann ziehen wir los? Wieviel Soldatinnen brauchen wir, um die Zwerginnen anzugreifen?
Sie stellt sich vor. Sie ist die geschlechtslose Nr. 103 683 aus dem Gelege des vergangenen Sommers. Ein großer leuchtender Schädel, lange Mandibeln, Augen kaum vorhanden, kurze Beine, kurzum, eine mächtige Verbündete. Und eine geborene Enthusiastin. Das Weibchen Nr. 56 muß ihren Feuereifer sogar zügeln.
Sie erklärt ihr, daß es unter ihnen, inmitten des Volkes, Spioninnen gibt, womöglich Söldnerinnen, die für die Zwergameisen arbeiten und verhindern sollen, daß die Belokanerinnen das Rätsel der geheimen Waffe lösen.
Man erkennt sie an ihrem charakteristischen Felsengeruch.
Wir müssen schnell machen.
Verlaßt euch auf mich. Sie teilen untereinander die Stadt in Einflußzonen auf. Nr.
327 wird sich bemühen, die Ammen des Solariumsz u überzeugen, die im allgemeinen recht naiv sind.
Nr. 103 683 wird versuchen. Soldatinnen anzuheuern. Wenn es ihr gelingt, ein Heer aufzustellen, wäre das schon toll.
Ich kann auch die Kundschafterinnen befragen, um weitere Informationen über diese Geheimwaffe der Zwerginnen zu erhalten.
Nr. 56 wird ihrerseits die Pilzkulturen und die Stallungen aufsuchen, um strategische Unterstützung zu erlangen.
Treffpunkt 23°-Zeit an gleicher Stelle, um Bilanz zu ziehen.
Diesmal lief im Fernsehen, im Rahmen der Serie »Kulturen der Welt«, ein Bericht über die japanischen Sitten:
»Die Japaner, ein Inselvolk, leben seit Jahrtausenden in Autarkie. Die Welt ist für sie zweigeteilt: die Japaner und die anderen, die Fremden mit den unbegreiflichen Bräuchen, die Barbaren, bei ihnen Gai jin genannt. Die Japaner haben seit jeher einen sehr ausgeprägten Nationalsinn. Läßt sich beispielsweise ein Japaner in Europa nieder, wirde r automatisch aus der Gruppe ausgeschlossen. Kommt er dann ein Jahr später zurück, sehen ihn seine Eltern nicht mehr als einen der Ihren an. Bei den Gai jin leben heißt ihren Geist annehmen, mit anderen Worten: ein Gai jin werden. Selbst seine Freunde aus der Kindheit werden ihn behandeln wie irgendeinen Touristen.«
Auf dem Bildschirm zogen die Bilder verschiedener Tempel und der geheiligten Orte von Shinto vorbei. Die Stimme aus dem Off fuhr fort:
»Ihre Vorstellung vom Leben und vom Tod unterscheidet sich von unserer. Hier hat der Tod eines Individuums keine große Bedeutung. Besorgniserregend ist der Verlust einer produktiven Zelle. Um den Tod zu zähmen, lieben es die Japaner, die Kunst des Kampfes zu kultivieren. Der Kendo wird von der Grundschule an gelehrt …«
Zwei Kämpfende, gekleidet wie alte Samurai, tauchten auf dem Bildschirm auf. Ihre Oberkörper waren mit schwarzen, beweglichen Platten bedeckt. Auf dem Kopf trugen sie einen ovalen, mit zwei langen Federn in Ohrhöhe geschmückten Helm. Sie stürzten mit einem Kriegsschrei aufeinander zu, begannen mit ihren langen Säbeln zu fechten.
Neue Bilder. Ein Mann sitzt auf seinen Fersen und hält mit beiden Händen ein kurzes Schwert gegen seinen Bauch.
»Der rituelle Selbstmord, Seppuku , ist ein weiteres Kennzeichen der japanischen Kultur. Es ist für uns sicher schwer zu verstehen, was …«
»Fernsehen, immer nur Fernsehen! Da wird man blöd von!
Ständig werden einem die gleichen Bilder in den Kopf gepfropft. Die erzählen doch nur irgendwas. Habt ihr nicht langsam die Nase voll?« rief Jonathan, der seit einigen Stunden zurück war.
»Laß ihn. Das beruhigt ihn. Seit dem Tod des
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