Die Ameisen
Weibchen spreizt seine niedlichen kleinen Mandibeln und … springt dem Männchen an die Kehle, um es zu enthaupten.
Nr. 327 kann kaum schlucken, er bekommt keine Luft. I n Anbetracht des fehlenden Duftausweises hat das Weibchen nicht vor, seinen Würgegriff zu lockern. Es hat einen Fremdkörper vor sich, den es zu vernichten gilt.
Aufgrund seines kleinen Wuchses kann sich Nr. 327 letztlich doch befreien. Er klettert auf die Schultern des Weibchens, preßt seinen Kopf. Das Blatt wendet sich. Jetzt ist es an ihr, sich Sorgen zu machen. Sie wehrt sich.
Als ihre Kräfte schwinden, schiebt Nr. 327 seine Antennen vor. Er will sie nicht töten, will nur, daß sie ihm zuhört. Die Sache ist nicht einfach. Er will eine AK mit ihr. Ja, eine absolute Kommunikation.
Das Weibchen (Nr. 327 identifiziert ihre Legenummer, sie ist die Nr. 56) spreizt die Antennen, meidet den Kontakt. Dann bäumt sie sich auf, um sich von ihm zu befreien. Aber das Männchen bleibt wie verwurzelt auf ihrem Mesotonum und verstärkt den Druck seiner Mandibeln. Wenn ers o weitermacht, wird er ihr den Kopf ausrupfen wie Unkraut.
Sie hält still. Nr. 327 auch.
Mit ihren Ozellen, die ein Blickfeld von hundertachtzig Grad haben, kann sie den auf ihrem Thorax sitzenden Peiniger deutlich sehen. Er ist ganz klein.
Ein Männchen.
Sie erinnert sich an die Lektionen der Ammen:
Die Männchen sind Halbwesen. Im Gegensatz zu allen
anderen Zellen der Stadt sind sie nur mit der Hälfte der Chromosomen ausgestattet. Sie gehen aus unbefruchteten Eiern hervor. Sie sind also große Eizellen oder vielmehr große Samenzellen, die im Freien leben.
Sie hat also eine Samenzelle auf dem Rücken, die sie erwürgen möchte. Die Vorstellung amüsiert sie fast. Warum werden bestimmte Eier befruchtet und andere nicht?
Wahrscheinlich aufgrund der Temperatur. Unterhalb von 20° kann die Spermathek nicht aktiviert werden, und die Königin legt unbefruchtete Eier. Die Männchen sind also aus der Kälte hervorgegangen. Wie der Tod.
Zum erstenmal sieht sie einen aus Fleisch und Chitin. Was hat er hier zu suchen, im Gemach der Jungfrauen? Dieser Bereich ist tabu, den weiblichen Zellen vorbehalten. Wenn irgendeine fremde Zelle in ihr zerbrechliches Heiligtum einbrechen kann, dann steht die Tür sämtlichen Infektionen offen!
Das Männchen Nr. 327 versucht erneut, den Antennenkontakt herzustellen. Aber das Weibchen läßt sich nicht überrumpeln.
Kaum spreizt er seine Antennen, klappt sie ihre auf den Kopf; kaum streift er das zweite Segment, zieht sie sie unverzüglich zurück. Sie will nicht.
Er erhöht den Druck seiner Kiefer, und es gelingt ihm, sein siebtes Antennensegment mit ihrem siebten in Berührung zu bringen. Das Weibchen Nr. 56 hat noch nie mit jemandem auf diese Weise in Verbindung gestanden. Man hat sie gelehrt, jeglichen Kontakt zu meiden, lediglich Düfte auszuscheiden oder aus der Luft zu empfangen. Aber sie weiß, daß diese ätherische Kommunikation trügerisch ist. Belo-kiu-kiuni hat eines Tages ein diesbezügliches Pheromon ausgestoßen: Zwischen zwei Gehirnen gibt es stets allerlei Unverständnis und Lügen, hervorgerufen durch parasitäre Düfte, Luftströme und die schlechte Qualität von Sender und Empfang.
Das einzige Mittel, diese Unannehmlichkeiten abzustellen: die absolute Kommunikation. Der direkte Kontakt der Antennen. Der ungestörte Übergang der Informationen von einem Gehirn zum andern.
Für sie ist das wie eine Entjungferung ihres Geistes.
Jedenfalls etwas Hartes und Unbekanntes.
Aber sie hat keine Wahl. Wenn er weiter so zudrückt, wird er sie töten. Sie zieht die Antennen auf ihre Schultern zurück zum Zeichen der Unterwerfung.
Die AK kann beginnen. Die beiden Antennenpaare rücken entschlossen zusammen. Leichter elektrischer Schlag. Die Nervosität. Langsam, dann immer schneller, reiben die beiden Insekten ihre gezackten elf Segmente aneinander. Ein Schaum bildet sich, mit konfusen Äußerungen gefüllt und voller Bläschen. Diese fette Substanz schmiert die Antennen ein und ermöglicht es, den Rhythmus des Reibens nochz u beschleunigen. Die beiden Insektenköpfe beben eine Weile unkontrolliert, dann beenden die Antennenstengel ihren Tanz und pressen sich der Länge nach aneinander. Jetzt gibt es nur ein Wesen mit zwei Köpfen, zwei Körpern und einem einzigen Antennenpaar.
Das natürliche Wunder vollzieht sich. Die Pheromone wandern über die tausend und abertausend kleinen Poren und Kapillaren der Segmente von einem Körper in
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