Die Ameisen
den Winkel der Sonnenstrahlen berechnet, findet sie heraus, wo sie gelandet ist. Auf dem Fluß des Westens.
Kein sehr empfehlenswerter Ort, denn wenn es auch auf sämtlichen Inseln der Welt Ameisen gibt, weiß man doch nicht, wie sie es als Nichtschwimmer angestellt haben, dorthin zu gelangen.
Ein Blatt treibt an ihr vorüber, sie hält sich mit aller Kraft ihrer Mandibeln daran fest. Sie strampelt wie besessen mit den Hinterbeinen, aber dieser Antrieb hat nur mäßigen Erfolg. Sie hält sich schon eine ganze Weile auf diese Art über Wasser, als sich ein gigantischer Schatten abzeichnet. Eine Kaulquappe?
Nein, das ist tausendmal größer als eine Kaulquappe. Nr. 56
erkennt eine spitz zulaufende Form mit einer glatten und getigerten Haut. Das ist für sie eine ganz neue Erscheinung.
Eine Forelle!
Die kleinen Krebse. Hüpferlinge und Wasserflöhe fliehen vor dem Ungeheuer. Jenes taucht ab, dann steigt es auf, direkt auf die Königin zu, die sich entsetzt an ihr Blatt klammert.
Die Forelle schießt mit aller Kraft ihrer Flossen nach oben und zerteilt die Oberfläche. Eine große Welle setzt der Ameise schwer zu. Die Forelle scheint in der Luft zu schweben, sie öffnet ein mit feinen Zähnen bewehrtes Maul und verschlingt eine kleine Mücke, die gerade vorbeiflattert. Dann windet sie sich mit einem Schlag ihrer Schwanzflosse und fällt in ihr kristallklares Reich zurück … Womit sie eine Flutwelle auslöst, die die Ameise überschwemmt.
Schon haben sich einige Frösche ausgestreckt und hüpfen los, um sich um diese Königin und ihren Kaviar zu zanken.
Jener gelingt es, wieder aufzutauchen, aber ein Strudel zieht sie erneut in unwirkliche Tiefen. Die Frösche verfolgen sie. Die Kälte läßt sie erstarren. Sie verliert das Bewußtsein.
Nicolas schaute mit seinen beiden neuen Freunden Jean und Philippe im Speisesaal Fernsehen. Sie waren nicht allein, andere Waisenkinder ließen sich mit rosigen Wangen durch die ständige Abfolge von Bildern einlullen.
Die Handlung des Films drang mit einer Geschwindigkeit von 500 Stundenkilometern durch ihre Augen und Ohreni n den Speicher ihres Gehirns ein. Das menschliche Gehirn kann bis zu sechzig Milliarden Informationen speichern. Aber wenn dieser Speicher voll ist, wird automatisch aussortiert: Die weniger interessanten Informationen werden vergessen. Es bleiben dann nur die traumatischen Erinnerungen und die Sehnsucht nach vergangenen Freuden.
An diesem Tag folgte im Anschluß an die Nachrichten eine Diskussion über Insekten. Die meisten der jungen Leute zerstreuten sich, für dieses wissenschaftliche Blabla hatten sie nichts übrig.
»Professor Leduc, Sie gelten, zusammen mit Professor Rosenfeld, als der größte europäische Ameisenspezialist. Was hat Sie veranlaßt, sich der Ameisenforschung zu widmen?«
»Ich habe eines Tages meinen Küchenschrank geöffnet und bin an eine Kolonne dieser Insekten geraten. Ich habe ihnen stundenlang bei der Arbeit zugesehen. Das war für mich eine Lektion in puncto Leben und Demut. Ich habe mehr darüber in Erfahrung bringen wollen … Das ist alles.«
(Er lachte.)
»Was unterscheidet Sie von Professor Rosenfeld, dem anderen hervorragenden Wissenschaftler auf diesem Gebiet?«
»Ach, der Professor Rosenfeld? Ist er noch nicht in Rente gegangen? (Er lachte erneut.) Aber im Ernst, wir gehören nicht zu der gleichen Clique. Wissen Sie, es gibt mehrere Auffassungen, diese Insekten zu ›verstehen‹ … Früher dachte man, sämtliche sozialen Arten (Termiten. Bienen. Ameisen) seine royalistisch. Das war einfach, aber es war falsch. Man hat festgestellt, daß bei den Ameisen die Königin in der Tat über keinerlei Macht verfügt, außer daß sie gebärt. Es gibt unter den Ameisen sogar eine Vielfalt von Regierungsformen: Monarchie, Oligarchie. Kriegerinnenrat, Demokratie. Anarchie usw. Manchmal, wenn die Bürger mit ihrer Regierung nicht zufrieden sind, begehren sie auf, und dann kommt es innerhalb der Städte zu ›Bürgerkriegen‹.«
»Unglaublich!«
»Für mich und für die sogenannte ›deutsche‹ Schule, zu der ich mich bekenne, basiert die Organisation der Ameisenwelt in erster Linie auf einer Hierarchie von Kasten und auf der Überlegenheit von Alphaindividuen, die überdurchschnittlich begabt sind und Gruppen von Arbeiterinnen leiten … Für Rosenfeld, der der sogenannten ›italienischen‹ Schule angehört, sind die Ameisen allesamt durch und durch anarchistisch, es gibt keine Alphaindividuen, die begabter sind
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