Die andere Haut: Roman (German Edition)
vielen Frauen zusammen gewesen, zumindest wirkte er so, ein kleiner Casanova, sagten alle. Hat sie ihn je danach gefragt? Sie erinnert sich nicht. Und wenn schon. Feuer ist Feuer, Glut ist Glut, da gibt es kein Gestern und Morgen.
Daran denkt sie, vor dem Fenster die wattige Wolkendecke, das Gewitter ist vorbei. Sie versucht, sich abzulenken, konzentriert sich auf den Hollywood-Film, der über die Bildschirme flackert, schaltet schließlich um auf die spanische Version, obwohl sie die englische besser versteht, es hat ja doch keinen Sinn. Einige Stunden noch. Unter ihr der Atlantik. In ihrem Blut der Sekt.
Kapitel 2
Zeit der Freiheit
L aras erste Schritte auf einem fremden Kontinent. Noch nie war sie so weit weg von daheim. Vor fünf Stunden ist sie gelandet, sie ist todmüde, kann aber nicht schlafen. Zwei freundliche Damen haben sie abgeholt und in ihr Apartment gefahren, viel gesprochen haben sie nicht mit ihr. Lara traut sich noch nicht richtig, ist unfähig zu spanischem Smalltalk. Dass sie ewig nicht geschlafen habe, hat sie über die Lippen gebracht, und die beiden haben sie in Ruhe gelassen, ein wenig miteinander geplaudert, sie abgesetzt, hier dein Stadtplan, dort ist die Schule, morgen um acht Uhr geht es los, schlaf gut.
Zu Hause ist es weit nach Mitternacht, hier wird es langsam Abend. Es ist noch hell, sie läuft durch die Straßen, saugt alles auf. Die neuen Gerüche, die nebelverhangenen Berge, die fremden Menschen, alle so klein, Indígena-Frauen mit schwarzen Hüten auf dem Kopf und Babys im Arm, niedliche Kinder mit traurigen Augen, die Obst verkaufen, Schmuck oder Bonbons. Wie in Trance setzt sie einen Fuß vor den anderen, wie durch eine Mauer hindurch hört sie einheimische Männer mit der Zunge schnalzen und Komplimente rufen für den rötlichen Schimmer in ihrem Haar, ihre üppigen Formen, die blassgrauen Augen oder schlicht ihr Anderssein. Sie braucht dringend Schlaf, auch wenn die Müdigkeit nur ihre Glieder erreicht, nicht ihr Denken. In ihrem Kopf rast und trommelt es, wie in schlaflosen, durchgrübelten Nächten, in denen es keine kleinen Fragen gibt, nur solche, die plötzlich die Welt bedeuten.
Wer bist du in der Fremde? Allein, mit der Chance, dich neu zu erfinden? Was bleibt von dir und als was kehrst du zurück? Als neuer Mensch? Als besserer gar? Vielleicht endlich als der, der du schon immer warst und den du bislang nicht gefunden hattest. Ist das zu viel gehofft, ist das Bild zu banal? Wahrscheinlich. Und doch! Erneut blickt sie auf die Berge, die die Stadt umgeben. Dann schließt sie kurz die Augen und atmet durch. So ein Glück, hier zu sein. Was auch immer nun kommt.
Doch sie hat schließlich noch sechs Wochen Zeit, und so taumelt sie langsam zurück in ihr Feriendomizil. Das Zimmer ist klein und ein wenig muffig, das billigste eben, das sie bekommen konnte. Fleckige Wände, das Licht funktioniert nur manchmal, das Duschwasser ist kalt, unter der Spüle schimmelt es, aber Lara ist jung, was macht das alles schon, Bett ist Bett. Sie fällt hinein und ist augenblicklich weg.
Am nächsten Tag sieht sie Ricardo zum ersten Mal. Den ganzen Vormittag über, während ihres Unterrichts, aus den Augenwinkeln. In der Pause eine halbe Stunde lang intensiv. Soweit das geht, unauffällig. Automatisch wandert ihr Blick immer wieder zu ihm hin, wie das so ist, und so lächerlich sie sich vorkommt dabei, sie kann nicht anders.
In einer hübschen kleinen Sprachschule ist sie gelandet. Mit ihrer Lehrerin Simona sitzt sie im Garten, die Unterhaltung geht ihr leichter über die Lippen, als sie vermutet hatte. Simona spricht kein Wort Deutsch und kaum Englisch, zumindest tut sie so. Lara muss also Spanisch reden, geht mit ihr Übungen durch, diskutiert einfache Probleme, liest kleine Geschichten.
Einige Meter weiter sitzt er. Er unterrichtet ein stämmiges, blondes Mädchen. Was die beiden sprechen, kann Lara nicht verstehen, nur hin und wieder schallt das laute Lachen seiner Schülerin durch den Garten, unnatürlich laut ist es, beinahe ein Brüllen. Jedes Mal sehen alle anderen zu den beiden hin, Schüler wie Lehrer, und er lächelt schüchtern, ein wenig peinlich berührt.
Ricardo sieht nicht aus wie ein Lehrer mit seinem zusammengebundenen, schwarzen Haar, das dick und glatt in seinem Nacken glänzt. Trotz der Ruhe und Kraft, die er ausstrahlt, wirkt er ein wenig unsicher, die lärmende Art seiner Schülerin überfordert ihn.
Sie heißt Emma und kommt aus Norwegen, erfährt Lara in der
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