Die andere Haut: Roman (German Edition)
Liebe ist, weiß sie nicht, und es ist vielleicht auch egal. Nur eines spürt sie, mit einer Deutlichkeit, die sie zusammenzucken lässt. Sie will ihn noch, will ihn, will seinen Atem, will seine Haut, „café con leche“ hat er es genannt, seine braune Hand auf ihrem hellen Bauch, sein Mund auf dem ihren und ihrer beider Durst ... Lara guckt aus dem Fenster, der Himmel verdunkelt sich.
Das Flugzeug wackelt, ein Gewitter, nicht schlimm, „kleine Turbulenzen“, beruhigen die Stewardessen. Die junge Latina neben Lara bekreuzigt sich mehrere Male. Ihr fehlt das obere Glied des rechten Daumens, an den restlichen Fingern glitzern mehrere Silberringe, am Hals baumelt ein kleines Kreuz. Ihre Physiognomie erinnert Lara an Ricardo, die schmalen, schwarzbraunen Augen, die markante Nase und der fein geschwungene Mund ... Ihre vergessene Heimat in einem fremden Gesicht.
Sie schenkt der jungen Frau ein Lächeln, die lächelt zurück, bekreuzigt sich erneut und hebt auffordernd ihr Kinn, als Zeichen, sie solle es ihr gleich tun. Lara ist nicht danach, und so nickt sie nur verständnisvoll und beneidet das Mädchen kurz um sein Gottvertrauen. Wissen, was richtig ist, einfach lieben und loslassen ... Stattdessen: kleine Turbulenzen. Die der Pilot im Griff hat oder Gott. Oder auch niemand. Sie versucht zu schlafen.
Im Spätsommer wird sie David heiraten, sie hat Angst davor, Ricardo das zu sagen, sollte sie ihn wirklich sehen. Obwohl sie ihm nichts schuldig ist. Sie hat nicht versprochen, auf ihn zu warten, hat seine Liebe nicht einordnen können, zu lange nicht an sie geglaubt, sie nicht ernst genommen, aus lauter Panik, für ihre Naivität bestraft zu werden. Unklar, ob das ein Fehler war, vielleicht hätte sie sich einfach fallen lassen sollen, kindlich vertrauen ... Aber nein, ihre ach so erwachsene Skepsis ließ sie kein Risiko eingehen, und ob ihr dadurch ihre Liebe entglitten ist oder ihr Unglück oder keines von beidem, wer weiß das schon.
Ein Latino, der Rucksack-Touristinnen Spanisch-Unterricht gibt und Salsa-Stunden: ein Klischee, natürlich, es sagt nichts aus über den Einzelfall. Dennoch – auch damals, mit Anfang 20, meinte sie zu wissen, an wen sie gefahrlos ihre Liebe verschwenden dürfe und an wen nicht. Mein Gott, wer könnte es ihr verdenken, dass sie ihn in eine Schublade gesteckt hat mit tunesischen Animateuren und Südtiroler Skilehrern – man kennt das doch: Männer, die einem ein paar unvergessliche Nächte schenken, aber niemals ihr Herz. Küsse und Hitze und glitzernde Tropfen auf braungebrannter Haut, Meer oder Schweiß, die ganze Palette, Schwindel und Flüstern, und wenn man sich verliert in ihrem schokobraunen Schlafzimmerblick oder ihren strahlenden Bergsee-Augen, ist es schon zu spät.
Sie wird also heiraten, sie liebt David mit jeder Faser ihres Herzens, ihres Körpers.Aber da ist auch noch Platz für Ricardo, und es ist erschreckend, wie richtig sich das anfühlt, zwei glatte, glänzende Steine in ihrer Hand, zwei Schätze, zwei Leben und so viel Glück ... Manchmal denkt sie, das ist nun mal so, sie gehört eben zu diesen Menschen, die etwas mehr Liebe übrig haben als andere, einen überquellenden Topf, wie in dem Märchen vom süßen Brei. Eine süße, klebrige Masse an Liebe, an der einer allein ohnehin ersticken würde, ein nie versiegender Vorrat an Gefühl. Warum nicht mehrere daran teilhaben lassen, esst euch satt, und niemand kommt zu kurz. Doch das sind Gedanken fernab ihres Alltags, Spielereien und Träume, für die es Gefährten bräuchte, Seelenverwandte, eine klarere Sicht und jede Menge Mut. Zwar scheint David ihr Denken und Streben zu verstehen, doch sie ist sich nicht sicher, ob er genauso fühlt wie sie. Sehnt er sich auch nach Hingabe ohne Grenzen und gesprengten Ketten und einer Liebe, die größer ist als der schlichte Zusammenschluss zweier Leben? Lara kann es nur hoffen. Fast wünscht sie sich wirklich, auch Ricardo hätte jemanden gefunden, dann liefe ihr Verlangen womöglich ins Leere und alles bliebe bestehen, wie es ist. Der Traum bliebe Traum und ernährte sie weiter bis in den Tod.
Es ist sogar wahrscheinlich, dass er mittlerweile gebunden ist. Sich hat binden lassen. Er ist jetzt Ende 30, seine Familie wird gedrängt haben oder drängen, seine Freunde ... In seiner Kultur ist es ungewöhnlich, in diesem Alter noch keine Kinder zu haben und die Hochzeit noch vor sich oder vielleicht nie geplant. Taugt er zum Rebellen? Kaum. Oder doch?
Damals ist er mit
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