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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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nichts als ein Riesenhaufen Lügen ist.«
    »Die Geschworenen haben das, was ich gesagt habe, für einen Haufen Lügen gehalten«, sagte Liz leise. »Es ist nichts passiert. Ihr habt das Urteil ja gehört. Nichts ist passiert.« Ich saß neben ihr hinten im Woody. Sie blickte aus dem Fenster. »Haufen Lügen«, sagte sie, »oder Lügenhaufen?« Sie zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. »Lügengefüge. Gefügige Lüge. Lügenrüge.« Liz sprach mit einer geistesabwesenden, monotonen Stimme, wie mit sich selbst. »Lügen fügen, Lügen fliegen, sie verbiegen, sie besiegen.« Sie stockte. »Lügen siegen, wir erliegen.« Sie starrte noch immer aus dem Fenster. »Alle Lügner lügen.« Wieder eine Pause. »Wer rügt die Lüge? Wer prüft die Lüge? Die schmierige Lüge? Die gierige Lüge. Wer giert, wer stiert, wer friert, wer verliert?«
    »Bitte hör auf«, sagte ich.
    »Ich kann nicht.«
     
    Der Tag schien schon ewig zu dauern, aber es war erst Nachmittag, als wir wieder in Mayfield ankamen. Der Morgen war klar gewesen, doch inzwischen hatte sich der Himmel zugezogen, und ein kalter Sprühregen fiel. Liz sagte, sie wolle nach oben in den Vogeltrakt, um Ruhe zu haben und vielleicht ein bisschen zu schlafen. Onkel Tinsley beschloss, den Kamin im Wohnzimmer anzumachen, und schickte mich los, Kleinholz aus dem Holzschuppen zu holen. Es war nicht genug Anzündholz da, also nahm ich das Beil, das an der Wand hing, und hackte ein paar Scheite klein.
    Nach dem Prozess war es eine Wohltat, etwas Einfaches und Praktisches zu tun. Man stellte das Scheit auf den Holzklotz, schlug kräftig mit dem Beil zu, und schon spaltete sich das Holz sauber in zwei Teile. Dann sammelte man sie auf und stellte das nächste Stück auf den Holzklotz. Alles lief so, wie es laufen sollte. Keine Tricks, keine Überraschungen.
    Als ich genug Kleinholz hatte, packte ich es in die Drillichtasche, zusammen mit ein paar Ästchen aus der alten Sattelbox, wo Onkel Tinsley sie zum Trocknen lagerte. Auf dem Weg zurück zum Haus legte ich einen Arm über die Tasche, damit das Holz nicht nass wurde.
    Onkel Tinsley kniete vor dem Kamin, zerknüllte Zeitungspapier und riss Pappe in Streifen. Mom saß in einem Ohrensessel mit Brokatbezug neben ihm. Sie und Onkel Tinsley hatten anscheinend keine Lust mehr auf Streit. Stattdessen ließ sich Onkel Tinsley darüber aus, wie wichtig die passende Menge Anzündmaterial war – Papier, Pappe, Ästchen, Kleinholz, kleine trockene Stücke –, wenn man ein ordentliches Feuer machen wollte, und dass man erst dann, wenn die Flammen schon richtig loderten, die ersten Scheite auflegte. Ansonsten wärmte es nicht, es qualmte bloß.
    »Bean, schau doch mal nach Liz und frag, ob sie nicht runterkommen will«, sagte Mom. »Ein bisschen urwüchsige Wärme täte ihr wahrscheinlich ganz gut.«
    Ich ging die Treppe hoch und den Flur entlang. Es war kalt. Onkel Tinsley stellte die Heizung erst an, wenn die Temperatur unter den Gefrierpunkt fiel. Der Regen war stärker geworden, und man hörte ihn auf das Metalldach prasseln. Als ich die Tür zu unserem Zimmer öffnete, sah ich Liz vollständig angezogen auf dem Bett liegen. Ich wollte mich schon umdrehen und sie schlafen lassen, doch auf einmal gab sie ein kraftloses, gurgelndes Geräusch von sich, das mich erschreckte.
    »Liz?«, sagte ich. »Liz, alles in Ordnung mit dir?«
    Ich setzte mich neben sie, schüttelte ihren Arm und rief ihren Namen, und als sie die Augen aufschlug, waren die ganz verschleiert und unscharf. Sie lallte ein paar Worte, aber ich konnte sie nicht verstehen. Ich rannte nach unten. »Mit Liz stimmt was nicht!«, schrie ich.
    Mom sprang aus dem Sessel auf, und Onkel Tinsley ließ das Scheit fallen, das er gerade in der Hand hielt. Wir rannten die Treppe hoch. Onkel Tinsley schüttelte Liz heftig, und sie reagierte mit den gleichen lallenden, unverständlichen Geräuschen.
    »Hast du irgendwas genommen?«, schrie Onkel Tinsley sie an.
    »Tabletten«, murmelte sie.
    »Tabletten? Was für Tabletten?«
    »Moms.«
    Onkel Tinsley sah zu Mom hinüber. »Was für Tabletten sind das?«
    »Sie meint bestimmt die Schlaftabletten«, sagte Mom.
    »Du hast Schlaftabletten?«
    »Na und?«
    »Himmelherrgott, Charlotte. Such die Packung und sieh nach, wie viele fehlen.«
    Onkel Tinsley schlug Liz ein paarmal ins Gesicht, dann zog er sie vom Bett. Sie stolperte und fiel zu Boden. Onkel Tinsley sagte, wir müssten Liz irgendwie wach kriegen.
    Mom kam zurück und

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