Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
sagte, die Packung wäre leer, aber es wären nicht mehr viele Tabletten drin gewesen, sechs vielleicht, höchstens acht. Onkel Tinsley schleppte Liz ins Badezimmer, und während Mom ihnen folgte, erklärte sie, dass sie Liz in letzter Zeit gelegentlich eine Tablette gegeben hatte, zur Nervenberuhigung. Am Waschbecken flößte Onkel Tinsley Liz mehrere Gläser Wasser ein, zwang sie, sich vor die Toilette zu knien, und steckte ihr einen Finger in den Hals. Sie kotzte ihm die ganze Hand voll, aber Onkel Tinsley ließ nicht locker, bis sie nur noch würgte, aber nichts mehr rauskam. Dann bugsierte er sie in die Badewanne, stellte die Dusche auf kalt, und die beiden standen in ihren Klamotten da und wurden pitschnass. Liz fing an, zu husten und um sich zu schlagen. Sie wehrte sich gegen Onkel Tinsley und flehte Mom an, sie sollte ihn bitte, bitte dazu bringen, dass er aufhörte.
»Er holt nur das Gift aus deinem Körper«, sagte Mom.
»Da musst du durch«, sagte Onkel Tinsley.
»Sollten wir nicht besser einen Krankenwagen rufen?«, fragte ich.
Mom und Onkel Tinsley sagten wie aus einem Munde nein. Sie verhaspelten sich beinahe, als Onkel Tinsley sagte: »Wir haben alles unter Kontrolle«, während Mom sagte: »Sie kommt wieder in Ordnung.« Nach einem Moment fügte Mom hinzu: »Wir hatten heute schon genug mit Leuten in Uniform zu tun.«
Als das Gift nach Onkel Tinsleys Meinung endlich aus Liz’ Körper raus war, holte er eines von seinen großen Flanellhemden. Mom und ich halfen ihr hinein, dann wickelten wir sie in eine Decke und führten sie nach unten zum Kamin, während Onkel Tinsley sich trockene Sachen anzog. Mom kochte Kaffee für Liz, und ich rubbelte ihr das Haar trocken und kämmte es.
»Hast du versucht, dich umzubringen?«, fragte ich sie.
»Ich wollte bloß schlafen. Ich wollte das alles vergessen.«
»Das war echt bescheuert.« Ich wusste, es war nicht nett, so was zu sagen, aber ich konnte es mir nicht verkneifen. »Genau das hat Maddox doch versucht: uns umzubringen, und jetzt willst du ihm die Arbeit abnehmen?«
»Lass mich in Ruhe«, sagte Liz. »Ich fühl mich beschissen.«
»Bean hat recht«, sagte Mom. »Der würde sich ins Fäustchen lachen, wenn er erfahren würde, dass du Tabletten geschluckt hast, kaum dass du zu Hause warst. Die Genugtuung solltest du ihm nicht gönnen.«
Liz trank bloß wortlos ihren Kaffee und starrte ins Feuer.
48
L iz schlief noch fest, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Ich stupste sie an, um festzustellen, ob alles in Ordnung war, und sie nuschelte, sie wäre noch am Leben, wolle aber in Ruhe gelassen werden. Da es ein Samstag war, ließ ich sie weiterschlafen.
Ich ging runter in die Küche, wo Onkel Tinsley Kaffee trank und seine neueste geologische Fachzeitschrift las. Ich machte mir ein pochiertes Ei auf Toast und aß es gerade neben ihm am Tisch, als Mom mit einem Buch in der Hand hereinkam.
»Ich hab eine wahnsinnig gute Idee für eine schöne lange Reise«, sagte sie und hielt das Buch hoch. Es war ein Reiseführer zu den berühmtesten Bäumen in Virginia. Mom sagte, Liz und ich würden doch ständig von den herrlichen alten Bäumen rund um Byler schwärmen, von den großen Pappeln an der Highschool und der Kastanie im Wald hinter dem Haus der Wyatts. Aber diese Bäume wären nichts im Vergleich zu den wahrhaft atemberaubenden Bäumen in diesem Buch – der Sumpfzypresse am Nottoway River, die der größte Baum im ganzen Staat war, den dreihundert Jahre alten Rotfichten im Jefferson National Forest, der gewaltigen Virginia-Eiche in Hampton, unter deren Ästen ein Soldat der Union einer Gruppe von Sklaven die Emanzipations-Proklamation vorgelesen hatte, das erste Mal, dass sie überhaupt im Süden verlesen wurde. Es gab noch zig andere, erklärte Mom, und jeder von ihnen war faszinierend und konnte möglicherweise unser Leben verändern. Wir drei sollten herumfahren, diese Bäume besuchen und mit ihren Geistern kommunizieren. »Sie werden uns inspirieren«, sagte Mom. »Denn genau das brauchen wir jetzt.«
»Also wirklich, Charlotte«, sagte Onkel Tinsley. »Das kommt mir ein bisschen unausgegoren vor.«
»Du bist immer so negativ, Tin«, sagte Mom. »Immer, wenn ich irgendwas vorschlage, kommst du gleich mit irgendwelchen Einwänden.«
»Was ist mit der Schule?«, fragte ich.
»Ich werde euch unterrichten«, sagte sie.
»Und wir sollen einfach so wegfahren?«, fragte ich.
»Hier können wir nicht bleiben«, sagte Mom. »Das ist völlig
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