Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
Leute vom Gericht essen immer hier«, sagte Onkel Tinsley.
»Das ist eine der Wonnen des Kleinstadtlebens«, sagte Mom.
Die Kellnerin kam und fragte, was wir wollten.
»Wir sollten alle Quatsch mit Soße bestellen«, sagte ich laut.
Nach dem Mittagessen gingen wir wieder ins Gericht und warteten auf den unbequemen Flurbänken, während die Geschworenen sich berieten. Ich dachte, sie sollten sich ordentlich Zeit lassen, alle Beweise gründlich durchgehen und juristische Feinheiten diskutieren, aber schon nach nicht mal einer Stunde rief der Gerichtsdiener alle zurück in den Saal. Er sagte zu mir, da die Beweisaufnahme abgeschlossen wäre und die Geschworenen ein Urteil gefällt hatten, erlaube mir der Richter, wieder in den Gerichtssaal zu kommen.
Die Geschworenen traten einer nach dem anderen ein. Als ich zu Tammy Elbert hinübersah, blickte sie stur den Richter an. Die Gerichtsschreiberin reichte dem Richter einen Zettel. Er faltete ihn auseinander, las und faltete ihn zusammen. »Das Urteil lautet: nicht schuldig in allen Anklagepunkten«, sagte er.
Tante Al keuchte auf, und Mom schrie: »Nein!«
Der Richter schlug mit seinem Hammer auf den Tisch. »Die Geschworenen sind entlassen.«
Maddox schlug Leland Hayes klatschend auf den Rücken, dann ging er rüber zu den Geschworenen und fing an, Hände zu schütteln. Liz und ich saßen stumm da. Ich fühlte mich vollkommen durcheinander, als wäre alles auf den Kopf gestellt worden, als lebten wir in einer Welt, in der die Schuldigen unschuldig waren und die Unschuldigen schuldig. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Wie sollte man sich in so einer Welt verhalten?
Dickey Bryson stopfte seine Unterlagen zurück in die dicke Akte und kam rüber zu uns. »Diese Fälle, wo Aussage gegen Aussage steht, sind immer schwer zu gewinnen«, sagte er.
»Aber wir hatten doch einen Zeugen«, sagte ich.
»Heute hattet ihr keinen.«
47
W ir stiegen in den Woody. Onkel Tinsley fuhr wortlos die Holladay Avenue runter. Ich nahm Liz’ Hand, aber sie zog sie weg und lehnte sich gegen die Tür. Mom konnte sich kaum beherrschen, so aufgewühlt war sie. Ihr zitterten die Finger, als sie sich eine Zigarette anzündete. Dieser Verteidiger sei ein Ungeheuer, erklärte sie uns. Was hätte er nur für empörende, unwahre Dinge über sie gesagt. Und den Mädchen gegenüber habe er sich scheußlich benommen. Liz habe er sogar noch schlimmer behandelt als mich, fuhr sie fort. Er habe Liz’ Phantasie und Kreativität schlechterdings gegen sie verwendet, ihr vorgehalten, sich ständig irgendwas auszudenken – so hätte sie zum Beispiel für jede Geschichte, die sie Maddox’ Tochter Cindy vorgelesen hatte, einfach einen neuen Schluss erfunden. Und Liz’ malträtiertes Gesicht auf den Polizeifotos hätte genauso gut auf das Konto von Onkel Tinsley gehen können, der sie vielleicht geschlagen hatte, weil sie zu spät nach Hause gekommen war. Nachdem er Liz nach dem Perversling gefragt habe, den wir in New Orleans abgeschüttelt hatten, wollte er den Geschworenen weismachen, das wäre ein Beleg dafür, dass sie Männer völlig grundlos als »Perverse« bezeichnete und dass es für sie ein Spiel und eine Herausforderung wäre, Männer auszutricksen. Ihre zwei Lieblingsautoren, Lewis Carroll und Edgar Allan Poe, so der Verteidiger, wären ja schließlich selber Perverse gewesen. Er hatte Liz als eine gewohnheitsmäßige Lügnerin mit einer wilden Phantasie hingestellt, die sich ständig von Perversen verfolgt fühlen würde, um dann an die Geschworenen gewandt zu sagen, das wäre wohl an sich schon ziemlich pervers.
Dann legte Mom los, wie sie Byler hasste. Die Stadt sei voll von Hinterwäldlern, Bauerntölpeln, Rassisten und Fusselköpfen. Sie sei kleinkariert und beschränkt, rückständig und spießig. In diesem Gerichtssaal zu sitzen sei das Demütigendste gewesen, was sie je in ihrem Leben erlebt habe. Im Grunde hätten
wir
vor Gericht gestanden, nicht Maddox, und zwar wegen unserer Werte und unserer Art zu leben, wegen unserer Bereitschaft, hinaus in die Welt zu gehen und etwas anderes und Kreatives aus unserem Leben zu machen, anstatt in diesem erstickenden, sterbenden, klaustrophobischen Weberkaff zu verkümmern.
»Halt den Mund, Charlotte«, sagte Onkel Tinsley.
»Das ist das Problem«, sagte sie. »In dieser Stadt sollen alle immer bloß den Mund halten und so tun, als wäre alles bestens. Meine kleine Bean hatte als Einzige den Mut, aufzustehen und zu sagen, dass alles
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