Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
ausgeschlossen.« Sie sah mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. »Ich meine, du willst mir doch wohl nicht sagen, du willst hierbleiben, oder?«
Der Prozess und das Urteil und Liz’ blöde Idee mit den Schlaftabletten hatten mich derart verstört, dass ich noch gar nicht darüber nachgedacht hatte, was wir jetzt machen würden. »Mom, ich weiß nicht, was ich will«, sagte ich. »Aber wir können nicht einfach verschwinden.«
»Wieso nicht?«, fragte Mom.
»Jedes Mal, wenn wir auf ein Problem stoßen, verschwinden wir einfach«, sagte ich. »Aber wenn wir dann irgendwo anders sind, stoßen wir auf ein neues Problem, und dann müssen wir von dort auch wieder verschwinden. Andauernd verschwinden wir von irgendwo. Können wir nicht einmal irgendwo bleiben und das Problem lösen?«
»Ganz meine Meinung«, sagte Onkel Tinsley.
»Ihr habt doch versucht, das Problem zu lösen, indem ihr diesen Maddox angezeigt habt«, sagte Mom, »und du siehst ja, was dabei herausgekommen ist.«
»Was hätten wir denn machen sollen? Weglaufen?« Plötzlich war ich wütend. »Das kannst du ziemlich gut, was?«
»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden? Ich bin deine Mutter!«
»Dann verhalte dich auch zur Abwechslung mal so. Wir würden gar nicht in diesem ganzen Schlamassel stecken, wenn du dich die ganze Zeit wie eine Mom verhalten hättest.«
So hatte ich noch nie mit Mom geredet. Kaum hatte ich es ausgesprochen, da wusste ich, dass ich zu weit gegangen war, aber es war zu spät. Mom setzte sich an den Tisch und schluchzte los. Sie versuche ja, eine gute Mutter zu sein, aber es wär so schwer. Sie wüsste nicht, was sie machen oder wohin sie gehen sollte. In dem schäbigen kleinen Einzimmerapartment, das sie in New York gemietet hatte, wäre nicht genug Platz für uns drei, und was Besseres könnte sie sich nicht leisten. Wenn wir nicht die Rundreise zu den Bäumen machen wollten, könnten wir vielleicht ein Haus in den Catskills mieten, in der Nähe des buddhistischen Klosters, aber sie würde nie und nimmer in Byler bleiben. Nie und nimmer.
Onkel Tinsley legte einen Arm um Mom, und sie ließ sich gegen seine Schulter sinken. »Ich bin kein schlechter Mensch«, sagte sie.
»Das weiß ich doch«, sagte Onkel Tinsley. »Wir haben es alle nicht leicht gehabt.«
Fast hätte ich mich für das, was ich gesagt hatte, entschuldigt, aber ich bremste mich. Ich fand, dass ich recht hatte und dass Mom den Tatsachen ins Gesicht sehen musste. Also ließ ich Onkel Tinsley sie weiter trös- ten, goss ein Glas Orangensaft für Liz ein und ging nach oben, um nach ihr zu sehen.
Liz schlief noch, aber ich stupste sie so lange an, bis sie sich schließlich auf den Rücken rollte und an die Decke starrte.
»Wie fühlst du dich?«, fragte ich.
»Was meinst du wohl, wie ich mich fühle?«
»Ziemlich furchtbar«, sagte ich. »Hier, trink das.«
Liz setzte sich auf und trank einen Schluck Orangensaft. Ich erzählte ihr von Moms Idee mit der Rundreise zu irgendwelchen Bäumen oder der Möglichkeit, in die Catskills zu ziehen, in die Nähe von diesem Kloster. Liz sagte nichts. Jedenfalls, so erklärte ich weiter, hatte Mom gesagt, sie müsste raus aus Byler, deshalb müssten wir uns entscheiden, was wir machen wollten.
»Du bist die Ältere, aber ich seh das folgendermaßen«, sagte ich. Moms Idee mit der Baumrundreise wäre genauso daneben wie all ihre anderen Einfälle. Und der Catskills-Plan war regelrecht bescheuert. Ich hatte keine Lust, in irgendeinem Kloster mit einem Haufen buddhistischer Mönche zu leben. Und was, wenn Mom wieder abhaute oder noch einen Nervenzusammenbruch bekam, wenn wir dort waren? Würden die Mönche sich dann um uns kümmern? Außerdem dauerte die Schule nur noch drei Monate. Wir sollten wenigstens das Schuljahr in Byler zu Ende bringen. So schlecht war es hier doch gar nicht. Wir hatten Onkel Tinsley, und wir hatten die Wyatts. Die würden nicht einfach abhauen. Und schließlich war die Sache mit Maddox ausgestanden. Auch wenn uns das Ende nicht gefiel, es war immerhin ein Ende.
»Ich weiß nicht«, sagte Liz. »Von den vielen Fragen tut mir das Hirn weh.« Sie stellte ihren Orangensaft auf den Nachttisch. »Ich will bloß schlafen.«
Ich ging zurück nach unten. Im Wohnzimmer war Onkel Tinsley dabei, wieder Feuer im Kamin zu machen, und Mom saß in dem Ohrensessel. Ihre Augen waren ein bisschen verquollen von ihrem Heulanfall. Sie wirkte ungewöhnlich ruhig, aber auch traurig, und ich
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