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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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sich in den Laderaum des Lkws, wo er nicht vor der Hitze, aber wenigstens vor der direkten Sonne geschützt war. Seine Finger tasteten nach etwas, womit sie sich beschäftigen konnten. Gern hätte er die Augen einen Moment geschlossen, aber er ahnte, daß er sie erst viele Stunden später wieder öffnen würde.
    Er zog das Mobiltelefon heraus. Der Netzbetreiber hieß Orange . Theoretisch konnte er also auch hier telefonieren.
    Er las die im Speicher bewahrten Kurznachrichten, von der ersten bis zur letzten. Ausnahmslos stammten sie von Marie. Die älteste war mehrere Jahre alt. Bei jedem Handywechsel hatte er nervös darauf geachtet, daß sie erhalten blieb. Es war ihre erste Liebeserklärung gewesen. Geschrieben hatte sie sie, weil sie in jenem Gespräch kurz zuvor, das doch schon alles gesagt und alles bedeutet hatte, zu schüchtern gewesen war, sie auszusprechen. An diesem Tag hatten sie gemeinsam Silvester feiern wollen. Doch dann mußte sie überraschend zu ihrer kranken Schwester nach England fliegen. Um genau 0.00 hatte sie ihm die Nachricht geschickt.
    Approaching , dachte er.
    Eine Minute vor vier erklomm er das Dach des Führerhauses. Er verfolgte den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr. Um Punkt vier breitete er die Arme aus.
    Jetzt.
    In diesem Moment schalteten sich beinahe ein Dutzend Kameras ein. Filmten eine Landschaft, die in diesem Moment nur für sie existierte. Dieses Stück Autobahn bei Heilbronn, dieser Parkplatz bei Amstetten waren bloß für sich selbst da in diesem Moment, doch er würde Zeuge werden. Diesen Moment gab es überall auf der Welt. An elf Orten fing er ihn ein. Jetzt.
    Und diesen. Jetzt.
    In einigen Tagen, vielleicht Wochen würde er sich den Film von Nürnberg und Regensburg und Passau ansehen und daran denken, daß er in diesem Moment auf dem Lkw gestanden war. Daß er sich danach aufgemacht hatte. Und daß er sich in dem Moment, der fünfzehn Minuten nach Beginn des Bandes festgehalten worden war, schon unter der Erde befand. Auf dem Weg nach England.
    Er hielt sich zwischen den Schienen, wo er zum Glück nicht über Schwellen, sondern über einen glatten Betonstreifen fuhr. Auf den ersten hundert Metern war der Tunnel breit, nun rückten die Wände näher und näher. Vor ihm erhellte der Scheinwerfer die Röhre. Das Knattern des Motors wurde durch die Enge verstärkt, und Jonas bereute bald, daß er keinen Helm aufgesetzt hatte. Nicht einmal Taschentücher führte er mit sich, um sich einen Streifen davon in die Ohren zu stopfen.
    Er war so müde, daß er immer wieder zusammenzuckte und vom Gas ging in der Meinung, vor sich ein Hindernis wahrzunehmen. Auch an den Wänden meinte er Bilder, Gesichter, Figuren zu erkennen.
    »Hooo!«
    Er fuhr nach England. Er tat es wirklich. Er mußte es sich vorsagen, um es zu glauben. Er war tatsächlich unterwegs.
    »Hooo! Ich komme!«
    Er gab Vollgas. Nicht einmal daß er die Augen, die er vor dem Fahrtwind zusammenkniff, kaum noch offenhalten konnte vor Müdigkeit, irritierte ihn oder ließ ihn gar Tempo zurücknehmen. Er war frei von aller Furcht.
    Er war das Wolfsvieh.
    Nichts konnte ihn aufhalten. Er würde alles überwinden. Er fürchtete niemanden. Er war auf dem Weg, der für ihn vorgezeichnet war.
    Bald fällst du um, sagte jemand neben ihm.
    Vor Schreck verriß er das Lenkrad. Der Vorderreifen streifte die Schiene. Im letzten Moment gelang es ihm, das Gleichgewicht wiederzugewinnen. Er drosselte die Geschwindigkeit. Wenn er auf der anderen Seite ankam, mußte er sich auf der Stelle schlafen legen, und sei es bei strömendem Regen ohne Schutz in einer Wiese.
    Und dann tauchte ein Hindernis vor ihm auf.
    Zunächst hielt er es für Täuschung. Doch als er näher kam, ließen die Rückstrahler, die das Licht seines Scheinwerfers reflektierten, keinen Zweifel. Vor ihm stand ein Zug.
    Er stieg ab. Den Motor ließ er laufen, um sehen zu können. Er legte die Hand auf einen Puffer des Waggons.
    Die Müdigkeit verwirrte ihn mittlerweile so sehr, daß er überlegte, auf dem Dach des Zuges weiterzufahren. Bis er doch erkannte, daß er zum einen das Moped nicht dort hinaufbefördern könnte, zum anderen auf dem Dach schlicht kein Platz für einen Mopedfahrer war.
    Er überprüfte die Seiten. Der Abstand zwischen Zug und Tunnelwand betrug höchstens vierzig Zentimeter.
    Hier würde kein Moped durchkommen.
    Nur ein Fußgänger.
    Nach seiner Schätzung steckte er in der Mitte des Tunnels. Mit fünfzehn Kilometer Fußmarsch mußte er rechnen. Dies mit

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