Die Arbeit der Nacht
anzutasten. Nach dem Essen schrieb er auf eine der Menütafeln: Jonas, 10 .August.
An der Tankstelle baute er die vierte Kamera auf. Er notierte sich den Ort, dann programmierte er die Kassette auf den nächsten Tag, 16 Uhr. Er tankte. Im Shop fand er eine Kaffeetasse, auf der sein Name prangte. Zusammen mit einigen gekühlten Erfrischungsgetränken packte er sie ein.
Er war zum Zusammenbrechen müde. Seine Augen brannten, seine Kiefer schmerzten, und sein Rücken fühlte sich an, als habe er tagelang Zementsäcke geschleppt. Als er sich hinter das Lenkrad setzte, wäre er beinahe der Versuchung der Koje hinter dem Sitz erlegen. Aber wenn er sich jetzt schlafen legte, hatte er am Tag darauf zu weit zu fahren, und unter Zeitdruck wollte er nicht geraten.
Die nächsten Kameras stellte er bei Nürnberg auf, eine davor und eine danach. Nummer 7 postierte er an der Ausfahrt nach Ansbach, Nummer 8 bei Schwäbisch Hall. Ohne sich um möglichen Regen zu kümmern, stellte er die neunte bei Heilbronn mitten auf die Straße. Auch die zehnte legte er schutzlos ohne Stativ vor Heidelberg einfach auf den Asphalt.
Wie in einem Halbtraum fuhr er durch Gegenden, die er noch nie gesehen hatte und die in ihm kein Interesse weckten. Mal nahm er zur Kenntnis, daß er durch blühende Landschaften reiste, mit Wäldern und saftigen Wiesen und Ortschaften mit freundlichen kleinen Häusern nahe der Autobahn. Mal meinte er, die Öde nehme kein Ende, er sah grau in grau, verfallene Schuppen, verbrannte Felder, häßliche Fabriken, Kraftwerke. Ihm war alles einerlei. Mit präzisen, immergleichen Handbewegungen postierte er seine Kameras und stieg wieder in den Lkw.
Bei Saarbrücken konnte er nicht weiter. Sein Tagesziel war Reims gewesen, das hätte ein bequemes Pensum für den nächsten Tag bedeutet. Aber auch so war er weit genug gekommen, um sich keine Sorgen machen zu müssen, daß er bis 16 Uhr nicht an Ort und Stelle wäre.
Er hielt auf der Mittelspur. Mit der Kassette, die er in der vergangenen Nacht aufgenommen hatte, ging er nach hinten. Seine Beine waren so weich, daß er die Ladefläche nicht mit einem Satz erklomm, sondern zur Fernbedienung griff. Summend trug ihn die Hebebühne empor.
Er legte die Kassette ein. Aus den Regalen holte er sich Knabbergebäck und eine Tafel Schokolade. Obwohl ihm die Wunde der gezogenen Zähne nicht weh tat, schluckte er zwei Diclofenac. Mit einem erleichterten Seufzen ließ er sich aufs Sofa fallen.
Er schloß die Augen. Er wollte es nur für eine Sekunde tun, doch es fiel ihm schwer, sie wieder zu öffnen. Sie brannten vor Müdigkeit.
Er schaltete den Fernseher ein und wählte den AV-Kanal. Der Bildschirm wurde blau. Alles war bereit. Dennoch zögerte Jonas, die Kassette zu starten. Etwas gefiel ihm nicht.
Er blickte sich um. Konnte nichts finden. Er setzte sich auf. Ließ den Blick nochmals schweifen.
Es war der Eingang. Er konnte ihn nicht sehen, weil der Toyota die Sicht verdeckte. Damit Licht einfiel, stand die Heckklappe offen, aber so konnte er sich nicht entspannen. Er knipste alle verfügbaren Lampen an. Er drückte den Knopf an der Wand. Für einige Sekunden meinte er, nach vorne zu fallen. Doch es war tatsächlich die Klappe, die auf ihn zukam.
Ein leerer Raum. Keine Möbel, nicht einmal Fenster. Weiße Wände, weißer Boden. Alles war weiß.
Die Gestalt auf dem Boden war nackt und ebenfalls weiß. Weiß und so regungslos, daß Jonas eine Minute lang geglaubt hatte, einen wirklich leeren Raum zu sehen. Erst als er Bewegung wahrnahm, schaute er genauer. Allmählich begann er Konturen zu erkennen. Einen Ellbogen, ein Knie, den Kopf.
Nach zehn Minuten stand die Gestalt auf und ging umher. Sie war von oben bis unten mit weißer Farbe, vielleicht auch mit einem weißen Trikot bedeckt. Ihr Haar war nicht zu sehen, als sei sie kahl. Alles war weiß, die Brauen, die Lippen, die Ohren, die Hände. Sie ging im Zimmer umher, als habe sie kein rechtes Ziel, als sei sie in Gedanken versunken oder warte auf etwas.
Kein Laut erklang.
Nach mehr als einer halben Stunde wandte sie sich langsam der Kamera zu. Als sie den Kopf hob, sah Jonas zum erstenmal die Augen. Ihr Anblick fesselte ihn. Offenbar waren sie mit weißen Kontaktlinsen bedeckt. Keine Iris, keine Pupille war zu sehen. Die Gestalt starrte aus weißen Klumpen in die Kamera. Unbewegt. Minutenlang. Lauernd.
Dann hob sie den Arm und klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers gegen die Linse. Es sah aus, als klopfe sie aus dem
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